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Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
„eine neue Qualität zu verleihen“ und damit den erfolgrei-
chen Weg ins 21. Jahrhundert zu bahnen.
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Während die Altherrenriege im Kreml bis 1985 längst
ihre politische Weitsicht verloren und ihre Politik ganz
auf die Bedürfnisse des Augenblicks konzentriert hatte,
wollte Gorbatschow das nachholen, was seine Vorgänger
versäumt hatten, um durch große gesellschaftliche Kraft-
anstrengungen den Sozialismus endlich zu einer effizi-
enten Gesellschaftsordnung weiter zu entwickeln, der
die Zukunft gehören würde. Die Perestroika war darum
nicht als kurzfristige Kampagne geplant, um aktuelle Pro-
bleme anzugehen. Pathetisch inszeniert als Fortsetzung
der Oktoberrevolution, zielte sie auf die längst überfällige
Modernisierung der Sowjetmoderne.
Mit seiner aufrüttelnden Bedrohungsdiagnose vermit-
telte Gorbatschow sowohl politischen Handlungszwang als
auch akuten Zeitdruck. Er machte deutlich, dass die Sowjet-
union zwar noch einige Zeit in der Krise verbleiben könne,
in die sie das gerontokratische Regime seiner Vorgänger hin-
eingeführt habe. Über kurz oder lang seien aber neue Wei-
chenstellungen erforderlich, um endlich einen Weg aus der
Sackgasse zurück auf die Hauptstraße des gesellschaftlichen
Fortschritts zu finden. Die Sowjetunion habe zu lang auf
geborgte Zeit und Kredit gelebt. Mit Gorbatschow kehrten
darum das Visionäre, der politische Wagemut und auch die
Ungeduld wieder in den Kreml zurück. Der Aufbruch in
die Zukunft dulde in den Augen der neuen Machthaber
keinen weiteren Aufschub mehr. Jede neue Verzögerung
verschlechtere nur die Erfolgsaussichten.
Voller Überzeugung, die herbeigesehnte Trendwende
einleiten zu können, entschied Gorbatschow, den Weg
ständig weiter voranschreitender und immer wagemuti-
ger Reformen zu beschreiten. Diese Entscheidung hätte
er aber keinesfalls treffen können, wenn er innerhalb
des sowjetischen Systems nicht zahlreiche Gleichge-
sinnte gehabt hätte, die mit dem Zustand der Sowjet-
union gleichfalls zutiefst unzufrieden gewesen waren. So
hatte Gorbatschow die Machtfülle des Generalsekretärs
anfänglich gezielt dazu genutzt, um bis März 1987 end-
lich den politischen Generationswechsel in den Apparaten
zu vollziehen und mit einer Verjüngung der Kader seine
Mitstreiter in die entscheidenden Positionen zu bringen.
30 Karner (wie Anm. 13), S. 174 u. 242 f. Auch in seinem neuesten Buch weist
Gorbatschow nachdrücklich darauf hin, dass sich „diejenigen irren, die
in mir einen radikalen Liberalen sehen, der sich von den sozialistischen
Idealen losgesagt hat.“ Er sei weiterhin der Überzeugung, „dass man in
der heutigen Welt ohne sozialistische Werte keine Politik betreiben kann.“
Vgl. Michail Gorbatschow: Das neue Russland. Der Umbruch und das Sys-
tem Putin, Köln 2015, S. 206 u. 507.
Einen derartigen Elitenaustausch hatte es in der Sowjetge-
schichte zuvor nur in den 1930er Jahren gegeben.
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Gorbatschows Aufbruchskurs traf anfänglich – wie
Meinungsumfragen zeigten – auf breite Unterstützung in
der sowjetischen Gesellschaft.
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Die Zeit schien reif, mit
einem Optimismus und Tatendrang verkörpernden Gene-
ralsekretär einen Neuanfang zu wagen. Die zahlreichen
Sympathisanten der Perestroika hofften inständig darauf,
dass ein frischer politischer Wind die Trägheit und Apa-
thie aus den Apparaten und Köpfen wehen würde.
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Zu
der Hymne der Perestroika, die sich gerade in der sow-
jetischen Jugend großer Popularität erfreute, avancierte
das 1986 vom charismatischen Songwriter und Sänger der
Leningrader Rockband
Kino
, Viktor Tsoj, geschriebene
Lied „Wandel“ (
Peremen
). Mit seinem vorwärtstreibenden
Rhythmus und emotionalen Liedzeilen gab es dem unge-
duldigen Zeitgeist eine Stimme und übersetzte Gorbat-
schows oftmals hochideologisierte Politrhetorik in eingän-
gige, aber auch eigensinnige Rockmusik.
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So hoffnungsvoll der Anfang war, der mitreißende
Schwung der hehren Visionen und der hochgesteckten
Reformambitionen der Perestroika versandete schon bald
im Dickicht politischer Widrigkeiten und zunehmender
Alltagsnöte. Schon bald verloren Gorbatschow und sein
Reformteam den Zugriff auf das zentrale ökonomische
Problemfeld. Deshalb kam es zu zahlreichen nichtinten-
dierten Kettenreaktionen und kaum mehr steuerbaren
Selbstläufen, die immer mehr Sprengkräfte freisetzten und
den Niedergang schließlich in einen Zusammenbruch
übergehen ließen.
Ökonomische Talfahrt und verpasster Strukturwandel
Die größte Reformbaustelle der Perestroika war zweifellos
die Wirtschaft, auf die Gorbatschows politischer Kampf-
begriff der Stagnation in besonderer Weise zutraf. Zwar
drohte noch kein ökonomischer Kollaps; während der
Zeit des 11. Fünfjahresplans von 1981 bis 1985 hatten die
31 Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im
20. Jahrhundert, München 2013, S. 503.
32 Brown (wie Anm. 15), S. 28f.: Juri Lewada: Die Sowjetmenschen 1989–
1991. Soziogramm eines Zerfalls, München 1993, S. 231.
33 Zu diesen Erwartungen vgl. z.B. die vielbeachtete Aufsatzsammlung, mit
der sich zahlreiche einflussreiche sowjetische Intellektuelle auf die Seite
der Perestroika schlugen: Juri Afanassjew (Hg.): Es gibt keine Alternative
zu Perestroika. Glasnost, Demokratie, Sozialismus, Nördlingen 1988.
34 Dirk Holtbrügge: „Wir singen, was wir wollen – und nicht, was erlaubt
ist”. St. Petersburg als Wiege und Zentrum der russischen Rockmusik, in:
Stefan Creuzberger u.a. (Hg.): St. Petersburg – Leningrad – St. Petersburg.
Eine Stadt in Spiegel der Zeit, Stuttgart 2000, S. 235–243.