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Von der Perestroika zur Katastroika

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Zer-

fall des Sowjetimperiums 2004 als „gesamtnationale Tragö-

die von gewaltigen Ausmaßen“ bezeichnet hatte, griff er im

April 2005 zu einem historischen Superlativ und erklärte den

Zusammenbruch der sozialistischen Supermacht zur „größ-

ten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. 

1

Schon

damals gab Putins viel zitierte Aussage Anlass zu wilden Spe-

kulationen. Vor dem Hintergrund der politischen Entwick-

lungen seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim

im März 2014 wird sie aktuell nicht mehr nur als Ausdruck

einer verklärenden Sowjetnostalgie und imperialer Phantom-

schmerzen, sondern darüber hinaus als verkappte politische

Handlungsmaxime interpretiert, um die Länder des postsow-

jetischen Raums wieder eng an Moskau zu binden. 

2

Besorgnis bereitet vor allem, dass die Vertreter des im

postkommunistischen Russland nach 1991 populär gewor-

denen Begriffs der „Geopolitik“ den Staat als einen in stän-

digem territorialem Wachstum befindlichen Organismus

verstehen und aus seinen jeweiligen geographischen Gege-

benheiten nicht selten sogar eine besondere historische

Mission ableiten. Wer von Geopolitik spricht, vermittelt

daher mithin den Eindruck, bei Politik gehe es weniger um

Lösung von Problemen, sondern vielmehr um das Besiegen

von Feinden. Die Welt erscheint dann als globale Kampf-

arena. Die internationalen Beziehungen werden in dieser

Perspektive als eine stete Konfrontation expansiver Macht-

blöcke und als Nullsummenspiel gedacht, bei der eine

Seite nur auf Kosten der anderen Seite gewinnen könne. 

3

Mit ihrer Topographie der Einflusszonen verleitet die

geopolitische Denkweise dazu, den Zusammenbruch der

Sowjetunion damit zu erklären, dass der Westen im Kal-

ten Krieg den Sieg davon getragen habe. In Washington

wird nur zu gern dieser Art des Triumphalismus gehuldigt

und betont, die USA hätten unter Reagan ihren weltpoli-

tischen Gegner mittels einer neuen Rüstungsspirale letzt-

lich in den Bankrott getrieben.

4

Diese siegestrunkene US-

1 Zit. n. Susanne Schattenberg: Das Ende der Sowjetunion in der Historiogra-

phie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 (2011) H. 49–50, S. 9–15, hier S. 9.

2 Martin Malek: Visionen einer imperialen Zukunft Russlands: Ein „neuer

Unionsstaat“, eine „Russländische Union“ oder eine „Eurasische Union“?,

in: ders./Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.): Der Zerfall der Sowjetuni-

on. Ursachen, Begleiterscheinungen, Hintergründe, Baden-Baden 2013,

S. 465–490.

3 Zaur Gasimov: Idee und Institution. „Russkij mir“ zwischen kultureller Mis-

sion und Geopolitik, in: Osteuropa 62 (2012), H. 5, S. 69–80.

4 Vgl. zur „Reagan Victory School“ bes. Peter Schweizer: Reagan’s War. The

Epic Story of His Forty-Year Struggle and Final Triumph over Communism,

New York 2002; Paul Kengor: The Crusador. Ronald Reagan and the Fall

of Communism, New York 2006; John Lewis Gaddis: Der Kalte Krieg. Eine

neue Geschichte, München 2007.

Sicht findet in Moskau auf spezifische Weise Resonanz,

weil sie nicht wenige Russen an eine „Dolchstoßlegende“

glauben lässt: Verschwörer und Volksfeinde hätten dem-

nach das Sowjetimperium im Auftrag des CIA willentlich

destabilisiert und zertrümmert.

5

„Totengräber des Imperiums“, „Held des Rückzugs“

oder Zauderer?

Besonders der letzte sowjetische Partei- und Staatschef,

Michail Gorbatschow, zieht im heutigen Russland – als

„Vaterlandsverräter“ und „Totengräber des Imperiums“

verunglimpft – weiter den Zorn auf sich.

6

Seine Frie-

densinitiativen, für die er 1990 den Friedensnobelpreis

erhielt, gelten nicht als große historische Leistung, son-

dern lediglich als Ausweis politischer Schwäche. Gorba-

tschow wäre keineswegs ein „Held des Rückzugs“ (Hans

Magnus Enzensberger) gewesen; vielmehr hätte er die auf

strategische Interessen fixierte Realpolitik seinen hohen

Moralansprüchen untergeordnet und auf dem Altar des

Weltfriedens vorschnell den Supermachtstatus der Sowjet-

union geopfert, um seine idealistische Mission des „Neuen

Denkens“ nicht zu gefährden.

7

Im April 2014 bedrängten

daher erneut mehrere Abgeordnete der russischen Staats-

duma den Generalstaatsanwalt Juri Tschaika, eine Klage

gegen Gorbatschow vorzubereiten, um ihm als „Toten-

gräber“ der Sowjetunion endlich den Prozess machen und

die angeblich wahren Hintergründe des Zerfalls des Sow-

jetimperiums aufdecken zu können. 

8

Dieses

blame game

, das die postkommunistische Öffent-

lichkeit und Politik gern spielt, hat auch die historische For-

schung in letzter Zeit beeinflusst. Mehrere meinungsstarke

Forscher wie Stephen Kotkin, Vladislav Zubok, Archie

Brown und Jörg Baberowski betonen neuerdings, dass Gor-

batschow von der Richtigkeit seiner Politik so überzeugt

gewesen sei, dass er die Gesetze der Macht sträflich ver-

5 Martin Malek, Von der Reform zum Zerfall – Anmerkungen zu den Ursa-

chen des Endes der UdSSR, in: ders./Anna Schor-Tschudnowskaja (Hg.),

Der Zerfall der Sowjetunion. Ursachen – Begleiterscheinungen – Hinter-

gründe, Baden-Baden 2013, S. 27-68, hier S. 52-57.

6 Bei einer vom Moskauer Lewada-Zentrum in Russland durchgeführten Mei-

nungsumfrage landete Gorbatschow 2013 mit miserablen Zustimmungs-

werten auf der Beliebtheitsskala der russischen Staatschefs auf dem letzten

Platz. Vgl.

http://www.aktuell.ru/russland/politik/putin_und_breschnew_

bei_russen_populaer_gorbi_unbeliebt_4543.html [Stand: 20.02.2016].

7 Zur kritischen Sicht auf Gorbatschows Außenpolitik vgl. bes. Vladislav

Zubok: A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to

Gorbachev, Chapel Hill 2007, S. 303–335.

8 Vgl.

http://de.sputniknews.com/german.ruvr.ru/news/2014_04_10/Gorbat

schow-soll-fur-Zusammenbruch-der-UdSSR-vor-Gericht-8875/ [Stand:

20.02.2016].