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Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
bilisieren. Im Rahmen der Umstellung auf die sogenannte
wirtschaftliche Rechnungsführung und Selbstfinanzie-
rung erhielten die Staatsbetriebe deutlich mehr Eigenver-
antwortung und Gestaltungsmöglichkeiten zugewiesen.
Sie durften Arbeiter entlassen und konnten mit anderen
Unternehmen (sogar mit ausländischen Firmen) direkte
Geschäftskontakte knüpfen. Die zentral festgelegten Plan-
vorgaben mussten zwar weiter beachten werden; es blieb
aber immer mehr den Unternehmensleitungen über-
lassen, wie sie diese erreichten. So sollten zwischen den
Staatsbetrieben quasi-marktwirtschaftlichen Beziehungen
entstehen, um Nachfrage und Angebot besser zueinander
in Bezug setzen zu können.
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Die neuen Wirtschaftsgesetze erlaubten auch neue pri-
vatwirtschaftliche Aktivitäten. Schon Ende 1987 gab es
bereits 300.000 sogenannter Kooperativen in Form von
Restaurants, Handwerker- und Transportbetrieben, Läden
aller Art, Baugenossenschaften, öffentlichen Toiletten und
Badehäusern. Im Rahmen sogenannter
Joint Ventures
konnten sogar ausländische Firmen in der Sowjetunion
unternehmerisch tätig werden. Viele Interessierte hielten
sich aber mit Investitionen zurück, weil sie nur 49 Pro-
zent an diesen Partnerbetrieben besitzen durften.
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Als
abschreckend erwies sich vor allem auch das Übermaß an
Bürokratie und Korruption. Zudem entstanden mit dem
privaten Unternehmertum kriminelle Schutzgeldbanden,
die mit ihrem brutalen Treiben Angst verbreiteten.
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Mit den wirtschaftspolitischen Lockerungen bemühte
sich das zweite wirtschaftspolitische Reformprogramm
Gorbatschows um die Verbindung von Plan- und Markt-
wirtschaft. Es schwächte jedoch die bestehenden adminis-
trativen Planungs- und Steuerungsmechanismen, ohne sie
schon konsequent durch die Regelungsinstrumente des
Markts zu ersetzen. Zutreffend beschrieb die US-ameri-
kanische Zeitschrift
Wallstreet Journal
die Sowjetunion des
Jahres 1988 als „zentrale Planwirtschaft mit ausgeknock-
tem Zentrum“.
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Einzelne Sowjetrepubliken konzentrier-
51 Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Impe-
riums, München 2009, S. 105ff.
52 Zu den Kooperativen und Joint Ventures vgl. Hanson (wie Anm. 49),
S. 200–209.
53 Wolf Oschlies: Alle anderthalb Stunden ein Mord. Sowjetische Kapitu-
lation in Raten vor der Kriminalität, in: Sowjetunion 1990/91, hg. vom
Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Mün-
chen/Wien 1991, S. 117–126; Mária Huber: Moskau, 11. März 1985. Die
Auflösung des sowjetischen Imperiums, München 2002, S. 86–97.
54 Zit. n. Hans-Hermann Höhmann: Der ökonomische Systemwechsel, in:
Eduard Schewardnadse/Andrej Gurkov/Wolfgang Eichwede (Hg.): Revo-
lution in Moskau. Der Putsch und das Ende der Sowjetunion, Reinbek bei
Hamburg 1991, S. 207–224, hier S. 214.
ten Produktionen und Warenkreisläufe fortan verstärkt
auf ihr eigenes Territorium und fuhren – entgegen beste-
hender Pläne und Verträge – ihre Geschäftsbeziehungen
zu Betrieben in anderen Regionen zurück. Dieses regio-
nale Autarkiestreben leitete einen ökonomischen Desinte-
grationsprozess ein.
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Als große Wachstumshemmnisse erwiesen sich ferner
die schlechte Arbeitsmotivation und Arbeitsdisziplin der
Beschäftigten. Lethargie und Apathie prägten seit den
1970er Jahren den Zeitgeist und zementierten damit den
ökonomischen Abschwung. Mit ihrer fortgesetzten Bevor-
mundung degradierte die zentralisierte Kommandowirt-
schaft engagierte Fachleute und qualifizierte Arbeiter zu
bloßen Befehlsempfängern.
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Die damit heraufbeschwo-
rene Entfremdung und Sinnentleerung der Arbeit führten
zu einer starken Zunahme eskapistischer Haltungen, ins-
besondere zu einem ausufernden Alkoholismus, der sich
zur Geißel der Gesellschaft entwickelte und die erhebli-
che Verschlechterung der Produktivität und Qualität der
Arbeit zur Folge hatte. Gorbatschow verschärfte daher den
Kampf gegen die Trunksucht, indem er die Produktion
und den Verkauf von Alkoholika weiter einschränkte. Der
neue Generalsekretär wandelte sich darum im sowjeti-
schen Volksmund bald zum „Mineralsekretär“.
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Zudem wurden Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin
stärker bestraft und die Delinquenten für ihr Fehlverhal-
ten öffentlich an den Pranger gestellt. Doch diese repres-
siven Maßnahmen lösten nicht die Probleme, sondern
bekämpften nur die Symptome. Auch die damit verbun-
denen unentwegten Appelle an die Leistungsbereitschaft
bewirkten keine grundlegende Verhaltensänderung der
Beschäftigten. Angesichts der beständig wachsenden Fehl-
zeiten und der immer längeren Arbeitspausen formulierte
die sowjetische Propaganda mit unfreiwilliger Ironie: „Im
Sozialismus ist der für den Kapitalismus typische Wider-
stand zwischen Arbeit und Freizeit aufgehoben.“
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In Zustand tiefer Zerrüttung befand sich auch das
Geld- und Finanzsystem. Angesichts der eklatanten Qua-
litäts- und Sortimentsmängel des sowjetischen Warenan-
gebots hatte der ungestillte Konsumhunger zur Folge, dass
eine wachsende Rubelsumme in den Familien gehortet
wurde. Dazu kam, dass der Alkoholkonsum bislang dazu
55 Ebd., S. 213.
56 Die Studie von Nowosibirsk, in: Osteuropa-Archiv 34 (1984) H.1, A1–25.
57 Brown (wie Anm. 15), S. 237–240; Jegor Ligatschow: Wer verriet die Sow-
jetunion, Berlin 2012, S. 261–270.
58 Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/
Wien 2006, S. 665.