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„Sozialkunde ist ein Nebenfach!“

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Fassung vom 22. Juli 2014 eine wesentliche Präzisierung

hinzu: „Dabei ist es insbesondere Ziel […], die demokrati-

sche Kompetenz zu stärken, zur Toleranz- und Werteerzie-

hung beizutragen, politisches Bewusstsein zu fördern, zu

zivilgesellschaftlichem Engagement und Teilhabe am poli-

tischen Prozess zu ermutigen und durch Aufklärungsarbeit

extremistischen Haltungen […] entgegenzuwirken.“

Die Fassung von 1955 legt nahe, worum es in dieser

knappen Formulierung vor allem ging: Gerade einmal

sechs Jahre jung war der demokratische Staat Bundesrepu-

blik Deutschland, gegründet auf eine Verfassung, die wie

keine zuvor staatliche Stabilität ebenso wie Demokratie und

Rechtssicherheit zu garantieren in der Lage war, der jedoch

die Masse der Bevölkerung eher gleichgültig oder „frem-

delnd“ gegenüberstand. Wirtschaftlicher Aufbau und die

Konzentration auf die Schaffung eines bescheidenen persön-

lichen Wohlstands dominierten das Denken, hinzu kam ein

tiefes Misstrauen gegenüber jeder Form politischer Betäti-

gung und der Wunsch, die Erinnerung an die Vergangenheit

möglichst zu verdrängen. Nach zwölf Jahren brutaler tota-

litärer Herrschaft musste Demokratie von Grund auf neu

gelernt werden: Dazu sollte die neue Landeszentrale beitra-

gen: Werben für die Demokratie in einer desillusionierten,

introvertierten Gesellschaft, nicht nur in der Schule, son-

dern gerade auch außerhalb, bei den Erwachsenen.

Knapp sechzig Jahre später hat sich die Situation verän-

dert: Längst ist die Demokratie etabliert. Aufarbeitung der

NS-Diktatur, Achtundsechziger-Bewegung, Überwindung

der Trennung und steigender Wohlstand haben das Verhält-

nis der Deutschen zu ihrem Staat enorm verbessert. Laut

einer repräsentativen Studie des Instituts für Demoskopie

in Allensbach von 2014 haben 91 Prozent aller Staatsbür-

ger großes Vertrauen in das Grundgesetz – der Skeptizis-

mus hat sich in Verfassungspatriotismus gewandelt.

Gleichzeitig aber haben die elektronische Kommunika-

tionsrevolution, die geopolitische und die geoökonomi-

sche Entwicklung die Gesellschaft auch in Deutschland

vor enorme Herausforderungen gestellt und große Verän-

derungen bewirkt. Eine räumlich begrenzte Wirtschafts-

und Finanzpolitik gibt es ebenso wenig mehr wie eine

unilaterale Machtpolitik, Kommunikation und Informa-

tionszugänge sind unbegrenzt, in jedem Dorf ist die Welt,

damit sind Enge, aber auch Behütung reduziert. Der All-

tag ist voll von Fremdem, nicht alles Fremde aber wird so

schnell alltäglich.

Den eigenen Platz, den eigenen Weg zu definieren,

wird zunehmend schwerer, traditionelle Familienstruktu-

ren verändern sich, Halt gebende Rituale lösen sich auf

oder werden zum Folkloristischen banalisiert, religiöse

Bindungen lockern sich entweder durch den säkularisier-

ten, ökonomiebasierten Alltag oder treffen auf Konkur-

renz, die scheinbar unüberwindlich ist.

Je nach Menschentyp machen solche Entwicklungen,

solche Überforderungen unsicher, führen zur Individua-

lisierung, zum Tunnelblick, zur Gleichgültigkeit oder gar,

am schlimmsten, womöglich in die Fänge derer, die die

Unsicherheit gerade junger Leute nutzen, um sie für ihre

eigenen, zwar zutiefst inhumanen, aber mit skrupellos-

wahnhaften, Idealismus und Sehnsucht gleichermaßen

bedienenden Versprechungen garnierten Ziele zu gewin-

nen. Wer sich aber einmal das Gedankengut (wenn man es

denn so nennen mag) von Hasspredigern eines unbegriffe-

nen Islam oder von nazistischen Rassenreinheitsbeschwö-

rern zu eigen gemacht hat, der ist nur schwer wieder für

die Werte der Demokratie zu gewinnen.

Es gilt also mehr denn je, Toleranz- und Demokratie-

erziehung so früh wie möglich zu beginnen und so nach-

haltig wie möglich zu gestalten. Denn die säkulare Demo-

kratie ist, damit sie erhalten bleiben kann, angewiesen

auf die sichere Verankerung der Werte, die sie sich selbst

geschaffen hat; es mag jemand noch so sehr die sonsti-

gen Säulen der jüdisch-christlichen Tradition beschwören,

sie bröckeln doch zusehends, und das Gewölbe, das es zu

tragen gilt, bedarf einer Stütze, die von allen akzeptiert

werden kann und muss.

Damit sind und bleiben die Schulen der wichtigste Ort

politischer Bildungsarbeit, und zwar alle Schularten in

allen Altersstufen, von der Grundschule über die weiter-

führenden Schulen bis zu den berufsbildenden.

Freilich bedeutet das keineswegs, dass sich der Bildungs-

auftrag der Landeszentrale nicht auch auf die gesamte

Gesellschaft erstreckte. Vielmehr sind ihre Betätigungsfel-

der im Verlauf ihrer nunmehr sechzigjährigen Geschichte

ständig breiter und vielgestaltiger geworden. Als Vermitt-

lerin der bayerischen und deutschen Geschichte des 20.

Jahrhunderts, insbesondere des Nationalsozialismus und

der deutschen Teilung sowie als Förderin und Betreuerin

der bayerischen Gedenkstätten steht sie für eine zeitgemäße

und zukunftweisende Erinnerungskultur; mit Bildungs-

und Kulturprogrammen vertieft sie bilaterale Beziehungen

insbesondere zu Israel und Tschechien. Ihre zahlreichen

Publikationen, von der Zeitschrift bis zum umfangreichen

Sammelband, vom Comic bis zum mehrbändigen wissen-

schaftlichen Werk, von der Wandzeitung bis zum komple-

xen Planspielmaterial tragen Informationen zur politischen

Bildung in alle Schichten, Alters- und Bildungsgruppen

der Bevölkerung. Mit Fachtagungen zu aktuellen Fragen

der bayerischen, deutschen und europäischen Politik för-