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„Sozialkunde ist ein Nebenfach!“
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
„Sozialkunde
ist ein Nebenfach!“
Zum 60-jährigen Gründungstag der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
von Harald Parigger
Den Beginn meiner ersten Hospitationsstunde als frisch-
gebackener Referendar in den achtziger Jahren habe ich
noch lebhaft im Gedächtnis.
Wir acht Junglehrer und Junglehrerinnen hatten uns
am zweiten Schultag nach dem Ende der großen Ferien
in einer zehnten Klasse versammelt und, hochmotiviert
und erwartungsvoll, in der letzten Reihe Platz genommen:
Gleich sollten wir unseren ersten professionellen Politik-
unterricht erleben.
Es waren aufregende Zeiten damals: Die US-Ameri-
kaner hatten einen erklärten Hardliner zum Präsidenten
gewählt, in Polen tobte der Kampf zwischen der Gewerk-
schaft „Solidarität“ und der autoritären sozialistischen
Staatsführung, die Bundesregierung schränkte das Asyl-
recht ein, 50.000 Menschen protestierten gegen den
Besuch des amerikanischen Außenministers, von Teheran
bis Tel Aviv, von Wien bis Heidelberg, von London bis
Rom, überall gab es Anschläge von Widerstands- und
Terrorgruppen, die bayerische Polizei wurde mit Reiz-
gas ausgerüstet … es gab also genug, worüber politisch
interessierte Jugendliche kontrovers, ja, hitzig diskutieren
konnten.
Das Klingelzeichen ertönte, ein paar Minuten gespann-
ter Erwartung vergingen, dann betrat ein hochgewach-
sener älterer Herr gemächlich den Raum, graues Haar,
grauer Anzug, blaugraue Krawatte, und begrüßte mit
gemessener Freundlichkeit seine Schüler/innen, winkte
auch uns wohlwollend zu, stellte seine Aktentasche auf
dem Boden ab und setzte sich. Er rückte seinen Stuhl
zurecht, legte die Unterarme mit gefalteten Händen auf
dem Tisch ab, räusperte sich und begann:
„Sozialkunde ist ein Nebenfach!“
Ich sehe heute noch meine Kollegen und die Schüler vor
mir: Alle Schultern sackten nach unten, alle Leiber ent-
spannten, alle Köpfe senkten sich. Sozialkunde war ein
Nebenfach. Na, dann!
Über den Rest der Stunde weiß ich nicht mehr viel, was
ja wahrhaftig kein Wunder ist: Wenn einem so deutlich
gesagt wird, dass die Materie, mit der man sich nunmehr
zu beschäftigen gedenkt, eine Nebensache ist – wer würde
da noch mit gespannter Aufmerksamkeit lauschen? Gut
gemeint hat er’s wahrscheinlich, „macht euch nicht zu viel
Arbeit“ andeuten wollen, erreicht aber hat er nur, dass alle
Motivation im Keim erstickt wurde.
An diesen einen lapidaren Satz, diese knappe, gleichsam
unumstößliche Aussage: „Sozialkunde ist ein Nebenfach!“
muss ich heute noch oft genug denken, immer dann vor
allem, wenn ich von erschütternd geringer Wahlbeteili-
gung höre oder lese, vom geringen Interesse junger Leute
an der Politik, vom fehlenden Nachwuchs der Parteien,
vom geringen politischem Überblickswissen, von man-
gelnder Identifikation mit den Werten des demokrati-
schen und sozialen Rechtsstaats.
Ist es nicht tatsächlich so, dass – wenn wir einmal die
wenig glückliche Fachbezeichnung „Sozialkunde“ beiseite-
lassen und stattdessen von „politischer Bildung“ sprechen –
politische Bildung in unserer Gesellschaft nach wie vor und
womöglich mehr denn je ein „Nebenfach“ ist?
Freilich, Grundwissen wird im Rahmen der Schulbil-
dung überall vermittelt. Die Lehrer, ganz gleich, welche
Fächer und welche Schulart sie wählen, erhalten während
der Referendarzeit eine Grundausbildung („Grundfra-
gen politischer Bildung“). Es gibt Sozialkundeunterricht
(wenn auch nur in karger Stundenzahl) am Gymna-