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„Sozialkunde ist ein Nebenfach!“
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
Tatsächlich haben ja autoritäre Staaten und Gesellschaften
den Unterricht immer gern benutzt, um Kinder auf Linie
zu bringen: Sozialistische Geographie, nationalsozialistische
Biologie, die Reihe lässt sich auf alle Fächer erweitern, soll-
ten unverrückbare Weltbilder schaffen, wie unsinnig und
widersprüchlich sie auch immer waren. Dass auch demo-
kratische Gesellschaften durch solche Anfechtungen gefähr-
det sind, darf ebenfalls nicht verschwiegen werden: Die
christlich-fundamentalistischen Kreationisten in den USA
haben ganz ähnliche Ziele; wenn ihnen auch bislang durch
die demokratische Kontrolle in Gestalt der Rechtsprechung
der Zugang zum Unterricht versagt geblieben ist, gibt es
doch keine Gewähr, dass dies für alle Zeit so bleibt.
Dennoch glaube ich, dass die Gleichsetzung von politi-
schem Unterrichtsprinzip mit Indoktrination und die dar-
aus resultierende Forderung nach reiner „Sachlichkeit“ und
„Politikfreiheit“ des Unterrichts auf einem Missverständ-
nis, ja auf einer gänzlich falschen Einschätzung beruhen.
Es geht nicht darum, Kindern und Heranwachsenden eine
eigene Sichtweise aufdrängen zu wollen, sie gar nach eigenen
Vorstellungen zu „formen“. Es geht auch nicht darum, jeden
Fachlerninhalt mit politischen Implikationen vollzustopfen.
Wir leben, das ist die entscheidende
conditio sine qua non
des hier gemeinten politischen Unterrichts, in einer Demo-
kratie. Und unter dem Gesichtspunkt der Demokratieerzie-
hung soll den Schüler/innen die politische Dimension jedes
Fachs vor Augen geführt werden, um ihnen ein sicheres Urteil
und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu ermöglichen.
Hat nicht Religion überall und immer etwas mit Politik und
Gesellschaft zu tun? Ist nicht Geographie im Zeitalter der
Globalisierung ein hochpoliti-
sches Fach? Sind nicht Mög-
lichkeiten und Grenzen der
Naturwissenschaften in höchs-
tem Maß gesellschaftspolitisch
relevant?Wer das alles negieren
will, scheint mir eher ange-
passte als fachlich aufgeklärte
junge Menschen zu erziehen.
Wenn wir davon ausge-
hen, dass Demokratie dau-
erhaft nur auf der Grundlage
eines allgemeinen Wertekon-
senses Bestand haben kann,
wird auch deutlich, dass der
„sachliche“, der „politikfreie“
Unterricht zu einer gera-
dezu gefährlichen politischen
Blindheit geraten kann. In der
öffentlich sehr heftig geführten Diskussion um den Schul-
namen „Wernher-von-Braun-Gymnasium“ etwa wurde von
einem Naturwissenschaftler die Ansicht vertreten, für Unter-
richt und Schule sei nur das physikalische Genie dieses Aus-
nahmeingenieurs von Bedeutung, alles andere, die politische
Anschauung und der daraus resultierende Modus agendi (in
diesem Fall z.B. die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und
die billigende Inkaufnahme von deren Tod) könne unter den
Tisch fallen. Nicht viel anders wird von überzeugten Wagne-
rianern argumentiert, was zähle, sei nur die grandiose Musik,
in diesem Zusammenhang spiele doch der Antisemitismus
des Meisters keine Rolle, was habe schließlich große Kunst
mit Politik zu tun … Ist der Schritt da zur positiven Ein-
schätzung des genialen Feldherrn, dessen blutige Diktatur
eben in einen anderen, jedenfalls nicht den gerade betrach-
teten Zusammenhang gehöre, wirklich noch groß?
Nein, ich bin der Überzeugung, wenn wir uns die poli-
tische Bildung im oben genannten Sinn als durchgehen-
des Unterrichtsprinzip zu eigen machen, wenn wir sagen,
dass die Werte des demokratischen, sozialen Rechtsstaats,
also die Achtung der Menschenrechte, die Grundsätze der
gesellschaftlichen Solidarität, der Freiheit, der Gleichbe-
rechtigung und der Überprüfbarkeit staatlichen Handelns
in allen Fächern eine wichtige Rolle spielen, dass wir dann
einen wesentlichen Beitrag zu einer Erziehung zur Mensch-
lichkeit und zu einer werteorientierten Lebensführung leis-
ten. Die Sozialkunde hätte dann unter allen Fächern die
Funktion eines Leitfachs der politischen Erziehung.
Angesichts der hier skizzierten Bedeutung der politi-
schen Bildung als übergreifenden Bildungs- und Erzie-
Karikatur: Gerhard Mester