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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

wurde der türkische Präsident Erdoğan in Brüssel empfan-

gen. Hinzu kam ein Besuch der deutschen Bundekanzlerin

Angela Merkel bei Erdoğan in der Türkei zwei Wochen vor

der Wahl – im Gepäck das Angebot der Visafreiheit für

Türken in der EU und umfassende finanzielle Hilfen in der

Flüchtlingspolitik –, der dazu beitrug, das Gebaren der EU

für Kritiker als aktive Wahlkampfhilfe für Erdoğans AKP

erscheinen zu lassen. Andererseits hätte Merkel über die

Koordinierung der Flüchtlingspolitik mit niemand anderem

sprechen können als mit Erdoğan, da dieser zu diesem Zeit-

punkt der einzige demokratisch legitimierte Ansprechpartner

in der Türkei war – und zudem bei den Parlamentswahlen

gar nicht offiziell zur Wahl stand. Regierungschef Davutoğlu

war Erdoğan im Amt des Ministerpräsidenten nachgefolgt,

ohne bisher in einer demokratischen Wahl bestätigt worden

zu sein und zudem seit den Verlusten der AKP empfindlich

angeschlagen. Ein Besuch bei Übergangspremier Davutoğlu

wäre wohl noch stärker als Wahlkampfhilfe interpretiert

worden. Trotz dieser formalen Neutralität blieb in der medi-

alen Wahrnehmung dieser europäischen Gesten ein ungutes

Gefühl: Die EU wurde in diesem Zusammenhang als Ins-

titution wahrgenommen, die ihre Werte je nach politischer

Großwetterlage verteidigt und Beitrittskandidaten dement-

sprechend kritisiert oder auch nicht.

Dabei ist der Umgang mit der Türkei derzeit ein Prob-

lem, das vielleicht mehr denn je nach realpolitischen und

pragmatischen Lösungen verlangt: Neben der Flüchtlings-

politik ist auch eine Lösung des Syrienkonfliktes ohne die

Türkei aufgrund seiner geographischen Lage und politi-

schen Bedeutung schlicht undenkbar 

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– und dieser Kon-

fliktherd ist schließlich das Land, das seit dem Zweiten

Weltkrieg die größte Flüchtlingsbewegung hervorgerufen

hat und noch immer hervorruft. Ein Dilemma, denn:

Sollte das Bemühen um eine Befriedung Syriens dazu füh-

ren, dass man die Unterdrückung ziviler und oppositio-

neller Kräfte in der Türkei akzeptiert, wäre das eine mora-

lische Bankrotterklärung aller Beteiligten. Für die Türkei

würde es bedeuten, dass das große Potential des Landes,

die junge und gut ausgebildete „Generation Gezi“, ver-

heizt würde.

39 Die Haltung der türkischen Regierung in der Syrienfrage ist seit Jahren

konsequent: Man spricht sich entschieden gegen jeden weiteren Macht-

anspruch des Assad-Regimes aus. Kritiker sind der Meinung – und hierfür

gibt es viele Anhaltspunkte – dass deshalb den Aktivitäten des IS, der ja

mittlerweile zu einem Hauptgegner des syrischen Regimes geworden ist,

auch auf türkischer Seite der Grenze viel zu lange geduldet wurde. Die

Türkei galt vielen als Transit- und Rückzugsgebiet der IS-Kämpfer. Regie-

rungsanhänger betonen dagegen, dass der IS bereits 2013 auf die Liste

der Terrororganisationen gesetzt wurde.

Die türkische Haltung im Syrien-Konflikt widerspricht jedenfalls diametral

den Interessen des Kremls, der das russophile Assad-Regime an der Macht

halten will. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch

die Türkei am 24. November 2015 dürfte eine Einigung der beiden Akteure

in der Syrienfrage noch schwieriger werden.

Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan in einer Arbeitssitzung der G-20 in Antalya, 15. November 2015.

Foto: ullstein bild – Reuters/POOL