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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
10,1 Prozent.
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Dabei darf nicht vergessen werden, dass die
Jugendarbeitslosigkeit noch sehr viel höher ist (s. Länderda-
ten). Jährlich drängen mehr als eine halbe Million junger
Menschen neu auf den Arbeitsmarkt, können von diesem
aber nicht vollständig absorbiert werden. Die Regierung
versucht, der Arbeitslosigkeit mit Investitionsprogrammen,
einer Fort- undWeiterbildungsoffensive für Fachkräfte sowie
der Verbesserung beruflicher Ausbildungssysteme entgegen-
zuwirken und hofft auf 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze in
den kommenden drei Jahren. Die AKP muss wirtschaftlich
insbesondere deshalb reagieren, weil die ärmere, ländliche
Bevölkerung unter einer schwächelnden Konjunktur ganz
besonders leidet – also die traditionelle Zielgruppe der Par-
tei, die zugleich stark konservativ-religiös geprägt ist. Viele
wandern auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebens-
bedingungen in die Städte und industriellen Zentren und
verstärken damit das starke Gefälle zwischen struktur-
schwachen und prosperierenden Regionen zusätzlich.
Die „Hagia Sophia“, einst Kirche, dann Moschee, dient heute als Museum.
Wie lange wohl noch?
Foto: Kristina Milz
Die Türkei unter Erdoğan entfernte sich im Laufe der Zeit
immer weiter von ihren vorsichtigen religiösen Grundfes-
ten – Kritiker sprechen von einer aggressiven gesellschaft-
lichen Islamisierung des Landes. Besonders augenfällig
34 Offizielle Angabe für August 2015 des Statistischen Instituts der Türkei:
http://www.tuik.gov.tr/Start.do;jsessionid=WG0jWKsT9rgmcrzBfy1gThhG
bpZvp00dBNbbrhHnZqM1wwDf2xPZ!1547865707 [Stand: 16.11.2015].
wurden diese Bemühungen im April 2015, als in der
Istanbuler Hagia Sophia erstmals wieder, im Rahmen der
Eröffnungsfeier einer Ausstellung, von einem Imam kora-
nische Suren zitiert wurden. Die Hagia Sophia, die bis zur
Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen religiöser
Mittelpunkt der christlichen Orthodoxie war, diente über
Jahrhunderte als Moschee
Ayasofya
. Mit der Säkularisie-
rung in der Ära Atatürk war eine erneute Umwidmung
des Bauwerks verbunden: Seither ist es ein Museum. Von
islamisch-konservativen Kreisen in der Türkei wird jedoch
immer wieder eine Rückführung zur Moschee gefordert.
Daher wurden die Ereignisse vom April international als
Statement der Regierung Erdoğan interpretiert.
Kappadokien im Frühjahr 2014: Die malerische Land-
schaft mit ihrer einzigartigen, aus weichem Tuffstein her-
ausgehauenen Höhlenarchitektur in Zentralanatolien ist
neben den Badeparadiesen wie Antalya im Süden der Tür-
kei einer der Touristenhotspots des Landes. Die Gegend
lebt von den aus- und inländischen Besuchern; die meisten
der Bewohner finden ihr Auskommen als Touristenführer
oder Restaurantbetreiber. Ausgerechnet hier stellen Touris-
ten verdutzt fest, dass nach 22 Uhr in den Geschäften offi-
ziell kein Alkohol mehr verkauft wird. Türkische Polizisten,
zufällig anwesend, genehmigen den illegalen Verkauf unter
der Ladentheke jedoch manchmal, nachdem sie sich verge-
wissert haben, dass man es mit Ausländern zu tun hat.
Die Grundlage dafür ist ein Gesetz, das das türki-
sche Parlament im September 2013 verabschiedete: Es
schränkt den Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit und
die Werbung für Alkohol stark ein. Es verbietet zudem
den Verkauf von Alkohol zwischen 22 und 6 Uhr und
erhöhte die Steuern auf alkoholische Getränke drastisch.
Erdoğan ließ sich sogar dazu hinreißen, Republikgründer
Atatürk und den ersten Ministerpräsidenten der Türkei
zu beleidigen, indem er verlauten ließ, das „Gesetz Got-
tes“ verbiete den Alkoholkonsum und sei wichtiger als
die „Gesetze von zwei Betrunkenen“.
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Der Versuch, die
säkulare Republik wieder verstärkt religiös-islamischen
Vorstellungen zu unterwerfen, wird als eine der Ursa-
chen für die Monate währenden Proteste im Frühjahr
und Sommer 2013 gewertet, die insbesondere die Groß-
städte Istanbul, Ankara und Izmir in Atem hielten. Der
Auslöser – die Abholzung von Bäumen im am Istanbuler
35 Hier und im Folgenden vgl. Yaşar Aydın: Protest und Opposition in der
Türkei – Das Ende einer Erfolgsgeschichte?, in: bpb, 18.06.2013, online:
http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/163433/protest-und-opposition-in-der-tuerkei [Stand: 18.11.2015].
Es ist allgemein bekannt, dass Atatürk gerne dem Alkohol zusprach. Er
starb 1938 an den Folgen einer Leberzirrhose.