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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
wie vor 13 Stimmen.
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Und die HDP konnte trotz der
Stimmenverluste ihren Einzug ins Parlament verteidigen.
Dabei war Erdoğan einst der Hoffnungsträger der
Nation, als er 2003 erstmals das Amt des türkischenMinis-
terpräsidenten übernahm. Als Aufsteiger, der als Kind auf
den Straßen Istanbuls die berühmten
Simits
– Sesam-
kringel – verkaufte, verkörperte er einen neuen Politiker-
typus, dem sogar Liberale und Intellektuelle zutrauten,
das säkulare und religiöse Lager der Türkei zu versöhnen.
Nach einer langen Tradition des Misstrauens in die Poli-
tik – wenig verwunderlich nach diversen Militärputschen
in der Türkei nach der Ära Atatürk
30
, insbesondere der
Erfahrung einer gewaltsamen Militärregierung zu Beginn
der 1980er Jahre – wurde ihm und seiner Partei, die eine
Zurückdrängung des militärischen Einflusses versprach,
nach der Jahrtausendwende Vertrauen entgegengebracht.
Ein wahlentscheidendes Moment zugunsten der AKP
Erdoğans war stets die Wirtschaftskompetenz, die der Par-
tei von Millionen Wählerinnen und Wählern zugesprochen
wurde. Und in der Tat ging es in der Türkei zu Beginn des
neuen Jahrtausends wirtschaftlich rasant bergauf:
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Den Sta-
tus eines Agrarlandes hat sie nun längst hinter sich gelassen;
sie zählt zu den industriellen Schwellenländern. Den größ-
ten Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat mit 60 Prozent der
Dienstleistungssektor, gefolgt von der Leicht- und Schwer-
industrie.
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Die wirtschaftspolitischen Strukturreformen
der AKP-Regierung seit 2002 trugen nach einer Krise in
den Jahren 2000/2001 zur nachhaltigen Stabilisierung des
Finanzsektors und damit der gesamten türkischen Wirt-
schaft bei. Der radikale Reformkurs Erdoğans – gepaart mit
der positiven Entwicklung der Weltwirtschaft zu Beginn
des 21. Jahrhunderts – sorgte dafür, dass die Türkei sich
mit ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen glo-
bal gesehen schon bald im oberen Mittelfeld befand.
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Die
wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist regional jedoch
29 Zu den Ergebnissen der Neuwahl vgl. Anm. 2.
30 Der immer wieder aufflammende Konflikt zwischen Militär und Politik
führte zu mehreren Stürzen von Regierungen und Verfassungsänderungen.
Das Militär, das sich selbst stets als Verteidiger des Kemalismus erachtete,
spielte bis zu den EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei und der Regierung
Erdoğan, im Zuge derer seine Macht eingeschränkt wurde, die entscheiden-
de politische Rolle. Vgl. dazu Şahin Alpay: Die politische Rolle des Militärs
in der Türkei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/40 (2009), S. 9–15.
31 Vgl. Heinz Kramer: Wirtschaft und Gesellschaft, in: Türkei (wie Anm. 1),
S. 40–50.
32 Vgl. hier und im Folgenden die Angaben des Auswärtigen Amtes: http://
www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Tuerkei/Wirtschaft_node.html [Stand: 18.11.2015].
33 2013 befand sich das Land nach Angaben des Internationalen Währungs-
fonds (IWF) immerhin auf Platz 65 von 186 Staaten.
nach wie vor sehr verschieden; hinzu kommen strukturelle
Probleme wie die niedrige Erwerbsquote von Frauen, der
hohe Anteil von Schwarzarbeit, der nach wie vor insbeson-
dere in ländlichen Regionen verbreitete Analphabetismus
und die hohe Abhängigkeit der türkischen Industrie von
Energie- und Rohstoffimporten.
Seit 2014 hat sich das Wirtschaftswachstum in der
Türkei stark abgeschwächt: Es lag nur noch bei 2,9 Pro-
zent, während es in den vergangenen zehn Jahren durch-
schnittlich 4,7 Prozent aufwies. Die türkische Lira hat
seit Beginn des Jahres mit 30 Prozent massiv abgewertet
und steht nach wie vor stark unter Druck, wodurch die
Inflation angefeuert wird; die Realeinkommen sinken.
Das führt dazu, dass insbesondere die ärmeren Bevölke-
rungsschichten trotz eines Mindestlohns von rund 1.200
Lira am Rande des Existenzminimums leben. Die Zahl
der sogenannten „arbeitenden Armen“ wächst.
Aktuell zerbrechen sich türkische Wirtschafts- und Sozi-
alpolitiker zudem den Kopf darüber, wie angesichts sinken-
der Geburtenraten mit einer alternden Bevölkerung umzu-
gehen ist. Dabei wird auch die Entwicklung in Deutschland
aufmerksam beobachtet, wo sich die demografischen Ver-
änderungen deutlich früher als in der Türkei vollziehen.
Belastet wird das soziale Sicherungssystem in der Türkei
derzeit aber insbesondere von der Arbeitslosigkeit: Seit der
Krise der Weltwirtschaft im Jahr 2008 wächst die Zahl der
Erwerbslosen, jüngste Angaben der Regierung sprechen von
Von Ankara nach Teheran: In Tatvan, einer osttürkischen Kleinstadt am Van-
see, hält der Trans-Asia-Express. Auf die Fähre kommt nur der Gepäckwagen
des Zugs. An der anderen Seite des Sees wartet der Zug, der die Reisenden
dann über die türkisch-iranische Grenze bringt. Die iranischen Touristen
kurbeln die Wirtschaft in der Türkei an: Es ist das einzige Land, in das sie
ohne Visum reisen dürfen.
Foto: Kristina Milz