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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

islamische Bildungswesen und trieb die rechtliche Gleich-

stellung der Frauen voran. 

16

Die radikale Europäisierung

des Landes zeigte sich auch darin, dass seit Juni 1934 ver-

bindlich Familiennamen getragen werden mussten 

17

– ein

Novum in der türkischen Gesellschaft. Dabei waren Ata-

türks Absichten, bevor dieser in den 1920er Jahren mit

seiner republikanischen Partei die faktische Alleinmacht in

der Türkei erlangte, in ihrem Ausmaß und auch in ihrer

Ausrichtung noch nicht abzusehen: Mustafa Kemal war ein

Meister des Pragmatismus – wenn nicht gar des Opportu-

nismus – wenn es der Erreichung seiner Ziele in irgendeiner

Form dienlich war. 

18

Personenkult um Atatürk

Auch wenn viele der Atatürk’schen Reformen mit all ihrer

Vehemenz und der brutalen Geschwindigkeit ihrer Umset-

zung in ihrer unmittelbaren Massenwirkung zunächst

begrenzt waren, so führten sie doch langfristig zu einer

weitreichenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Ver-

hältnisse in der Türkei – in den Großstädten, allen voran

Ankara und Istanbul, sehr viel schneller und umfassender

als im Herzen des ländlichen, insbesondere östlichen Ana-

toliens mit seiner konservativen Bevölkerung, die auch

in der Folge dem Bildungs- und Elitensystem der neuen

Türkei eher fern blieb. Trotz aller Säkularisierungs- und

Entislamisierungsbemühungen blieb der Islam für einen

Großteil der türkischen Gesellschaft ein entscheidender

Identifikationsrahmen. Man bemühte sich in der neuen

Wirklichkeit der türkischen Republik sodann um eine

Neudefinition des Verhältnisses von Islam und Moderne.

Jahrzehnte später führte dieser Prozess dazu, dass eine dezi-

16 Lange vor der Umsetzung in vielen europäischen Ländern wurde das akti-

ve Frauenwahlrecht schon in den 1920er Jahren eingeführt; 1934 folgte

auch das umfassende passive Wahlrecht. Die türkische Frauenbewegung

wurde von Atatürk und seinen Gefährten freilich nur so weit unterstützt,

als sie sich dem republikanischen Programm unterwarf und eine kleine

Elite an Vorzeigefrauen produzierte. Von einer umfassenden gesellschaft-

lichen Umwälzung des Verhältnisses von Mann und Frau blieb die Türkei

sehr weit entfernt und ein großer Teil der Bevölkerung seinen konservati-

ven familiären Traditionen verhaftet, vgl. Hanioğlu (wie Anm. 6), S. 212ff.

17 Das „Familiennamengesetz“ schaffte das verwirrende Namenssystem der

osmanischen Zeit ab: Personen waren durch eine Vielzahl von unter-

schiedlichen Namen und Umschreibungen bezeichnet worden, die neben

Eigennamen etwa auch Rückschlüsse auf den Vater oder den Herkunfts-

ort zuließen. Dabei waren Verwechslungen von Personen mit ähnlichen

„Merkmalen“ an der Tagesordnung, vgl. Hanioğlu (wie Anm. 6), S. 216.

18 So bediente er sich vor 1923 trotz der eigentlichen Verachtung, die er

für die Religion übrig hatte, durchaus islamischer Rhetorik, da er dies

angesichts einer stark muslimisch geprägten Gesellschaft als erfolgsver-

sprechend erkannte. Dasselbe galt für die Verwendung pseudo-kommu-

nistischer Sprachformeln, die es ihm erlaubte, sich die sowjetische Groß-

macht gewogen zu halten. Vgl. das Kapitel „Islamischer Kommunismus?

Der Türkische Befreiungskrieg“, in: Hanioğlu (wie Anm. 6), S. 102–141.

diert islamische Partei wie die

AKP

im Lande Atatürks an

die Macht kommen konnte.

Neben den heute weitgehend als „positive Verwestli-

chung“ wahrgenommenen Veränderungen in der türki-

schen Gesellschaft waren Atatürk und Gefolge auch vor

problematischem europäischen Gedankengut nicht gefeit:

Sie importierten mit dem europäischen Fortschrittsge-

danken zugleich auch sozialdarwinistischen Rassismus,

aggressiven Nationalismus und autoritäre Herrschafts-

muster. Als Auswüchse des Versuches, die islamische

Religion durch ein anderes Identifikationsobjekt zu erset-

zen, können die pseudo-wissenschaftliche „Türkische

Geschichtsthese“

(Türk Tarih Tezi),

die Zentralasien und

namentlich Anatolien als Wiege der Menschheit und die

Türken als Begründer der Zivilisation propagierte, und

die sogenannte „Sonnensprachtheorie“ des dubiosen ser-

bischen „Sprachpsychologen“ Hermann Feodor Kvergić

gelten, der das Ur-Türkische als erste Sprache der Mensch-

heit identifiziert haben wollte. In der Republik bediente

man sich dieser scheinbar wissenschaftlich verbürgten

Genialität der türkischen Nation nur allzu gerne, um die

eigene Überlegenheit gegenüber anderen Völkern heraus-

zustreichen und die osmanische Geschichte, mit der man

brechen wollte, 

19

stillschweigend zu übergehen.

Der quasi-religiöse Personenkult um die Symbolfigur

Mustafa Kemal, der 1938 starb, trieb teils bizarre Blü-

ten: 

20

1954 hatte ein junger Hirte in der ostanatolischen

Provinz eine Erscheinung. In einem Schatten, den die

Sonne auf einen Hügel warf, wollte er den Republikgrün-

der erkannt haben und meldete das „Wunder“ den loka-

len Behörden, die es sogleich öffentlich verkündeten. Seit

1997 wird am Schauplatz des Geschehens alljährlich ein

Festival veranstaltet, zu dem unzählige Besucher anreisen,

um das „Wunder“, das bei entsprechenden Tageszeit- und

Lichtverhältnissen schlicht und einfach einen Schatten in

Form der umliegenden Hügel zeigt, mit eigenen Augen

zu sehen. 2004 aber ereignete sich Ungeheuerliches, eine

„Respektlosigkeit sondergleichen“, „Hochverrat“, wie

ein türkischer Parlamentsabgeordneter wissen ließ: Ein

nichtsahnender Schäfer war just in dem Moment, in dem

der Schatten sich zeigte, in die Silhouette Atatürks hinein-

gelaufen. Die Menge tobte vor Zorn.

19 Hanioğlu betont die lange vernachlässigten Kontinuitäten der spätosmani-

schen zur türkisch-republikanischen Geschichte: Er verweist insbesondere

auf intellektuelle Strömungen im Osmanischen Reich, die schon längst Ge-

danken beinhalteten, die Atatürk später für sich allein beanspruchen sollte.

Auch die Reformbemühungen der Tanzimat-Zeit sprechen für eine längere

Tradition der allmählichen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse.

20 Die Szene ist beschrieben bei Hanioğlu (wie Anm. 6), S. 22 f.