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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
nien und Herzegowina, was heute als „Bosnische Anne-
xionskrise“ in den Geschichtsbüchern behandelt wird.
Das Sultanat besaß nach einem gescheiterten Staatsstreich
gegen die Jungtürken nur noch repräsentativen Charakter.
Die jungtürkische Regierung verfolgte einen zunehmend
aggressiven türkischen Nationalismus.
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In mehreren Kriegen verlor das Osmanische Reich
unter den Jungtürken Libyen und nahezu alle verbliebenen
europäischen Gebiete. Nach anfänglichem Zögern – und
ohne uneingeschränkten Rückhalt im Parlament – schloss
es sich im Ersten Weltkrieg schließlich den Mittelmächten
Deutschland und Österreich-Ungarn an. Die Jungtürken
kündigten alle internationalen Verträge auf, die eine Einmi-
schung anderer Mächte in deren Innenpolitik ermöglich-
ten. Ihr aggressiver Nationalismus führte auch zur Verhaf-
tung, Deportation und schließlich im Wesentlichen in den
Jahren 1915 und 1916 zum Genozid an den Armeniern,
der bis heute von der Türkei nicht als solcher anerkannt
wird.
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Neben den Armeniern wurden auch Aramäer, Assy-
rer und Griechen von den Jungtürken systematisch verfolgt.
Mit der Niederlage im Weltkrieg war der Zusammenbruch
des osmanischen Vielvölkerstaates endgültig besiegelt.
1918 besetzten die Siegermächte einen Großteil des noch
verbliebenen osmanischen Gebiets. Das sogenannte „Jung-
türkische Triumvirat“ musste fliehen. Der Nachfolger des
Sultans, Mehmed VI., beugte sich dem Willen der Sieger-
mächte und geriet innenpolitisch verstärkt unter Druck. Es
formierte sich eine Widerstandsbewegung gegen die Besat-
zer. Die Stunde des Mannes hatte geschlagen, der fortan
das Schicksal der Türkei in seine Hände nehmen sollte:
Mustafa Kemal.
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Das türkische Parlament verlieh ihm
1934 den Nachnamen „Atatürk“ (wörtlich: „Vatertürke“).
7 So setzte sie etwa das Osmanische als Amtssprache auch in den arabisch-
sprachigen Gebieten des Reichs durch – was den Verlust des Rückhalts in
den nichttürkischen Bevölkerungsteilen provozierte.
8 Der hundertste Jahrestag des Genozids hat zu einer veritablen Veröffentli-
chungswelle zum Thema geführt. Dabei stechen die Arbeit von Rolf Hosfeld:
Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015, und
der von Corry Guttstadt herausgegebene Sammelband: Wege ohne Heim-
kehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen, Berlin 2014, heraus.
Intensiv wird in jüngster Zeit auch über die Rolle der deutschen Kriegsver-
bündeten dabei diskutiert; siehe insbesondere Jürgen Gottschlich: Beihilfe
zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier,
Berlin 2015.
9 Viele Details der Atatürk’schen Biographie sind nach wie vor ungeklärt oder
umstritten – seine ethnische Abstammung, das genaue Geburtsdatum oder
sein Beiname
„Kemal“
(„der Vollkommene“) beispielsweise sind Details, an
denen Mustafa Kemal noch zu Lebzeiten für die Annalen der Geschichte
feilte. Zum Leben und Wirken Atatürks kann neben der deutschsprachigen
Biographie von Kreiser auch das Buch von Hanioğlu (wie Anm. 6), das jetzt
in aktualisierter Fassung und deutscher Übersetzung vorliegt, empfohlen
werden. Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie,
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München 2008.
Der Vater der Türken
Der Offizier, der sich bei der Verteidigung der Halbinsel
Gallipoli im Jahr 1915 reichsweit einen Namen gemacht
hatte, führte eine Befreiungsbewegung an, die bald eine
Art Gegenregierung in den besetzten Gebieten bildete
und schon in den Wahlen im Dezember 1919 eine Zwei-
drittelmehrheit erlangte. Sie verlegte ihren Sitz nach
Ankara, wo im darauffolgenden Jahr die „Große Türki-
sche Nationalversammlung“ zusammentrat und 1921
eine provisorische Verfassung verabschiedete. 1920 hatte
die Pforte unter Mehmed VI. den von den Siegermächten
des Ersten Weltkriegs diktierten Friedensvertrag von Sèv-
res unterzeichnet, der das Osmanische Reich de facto ent-
mündigte. Atatürk erkannte diesen Vertrag nicht an und
ließ es auf eine erneute kriegerische Auseinandersetzung
ankommen: Im „nationalen Befreiungskrieg“ wurden die
griechischen Truppen zurückgeschlagen und die griechi-
sche Bevölkerung (insbesondere in Smyrna, heute: İzmir)
vertrieben. Im Gegenzug verwiesen die Griechen türkisch-
stämmige Einwohner des Landes. Der Bevölkerungsaus-
tausch wurde im Vertrag von Lausanne 1923 von vielen
Großmächten abgesegnet und schließlich nahezu vollstän-
dig durchgeführt. Das beiderseitige Ziel, ein homogenes
Staatsvolk zu regieren, ging nicht ohne Blutvergießen
vonstatten und wird heute von Wissenschaftlern unter der
Bezeichnung ethnische „Säuberung“ diskutiert.
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Der erfolgreiche Widerstand gegen den Vertrag von
Sèvres füllte eine Lücke, die Mustafa Kemal zu seinem
kometenhaften Aufstieg verhalf. Die Erfolge der Kema-
listen, wie sich die Anhänger Atatürks nannten, fanden
auch international schnell Anerkennung. Atatürk schaffte
das Sultanat ab, die Istanbuler Regierung trat zurück und
der letzte Sultan des Osmanischen Reichs musste zusam-
men mit allen Mitgliedern der Dynastie das Land verlas-
sen. Die türkische Republik wurde am 29. Oktober 1923
ausgerufen. Mustafa Kemal fungierte als Staatspräsident;
İsmet İnönü wurde erster Ministerpräsident der Türkei.
Die Selbstbehauptung der Türkei unter den widrigen
Bedingungen des verlorenen Krieges machte aus Atatürk
eine Identifikationsfigur der jungen Republik, die in der
Geschichte ihresgleichen sucht.
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Der Weg für die gesell-
10 Vgl. Michael Schwartz: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale
Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im
19. und 20. Jahrhundert, München 2013, hier S. 396–424.
11 Daraus erwuchs auch die große Bewunderung Adolf Hitlers für Mustafa
Kemal, als dessen Schüler sich der Nationalsozialist sogar einmal be-
zeichnete. Hitler stieß damit aber bei weitem nicht auf die gewünschte
Gegenliebe. Vgl. Stefan Ihrig: Atatürk in the Nazi Imagination, Cam-
bridge 2014.