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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

Ein Partner im Zweifrontenkrieg: Die Türkei kämpft seit Juli 2015 gegen den

sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) und auch der gewaltsame Konflikt mit

der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK flammt wieder auf. Während die

europäischen Staaten in der Flüchtlingspolitik mehr denn je auf Staatspräsident

Erdoğan angewiesen sind, zeigen sich im Innern des Landes die Folgen eines

Versäumnisses der jüngeren EU-Geschichte: Die regierende AKP fühlt sich an

demokratische Versprechungen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen längst

nicht mehr gebunden. Die türkische Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts lau-

tet: Wer verteidigt eigentlich noch Atatürks Erbe – und wer die Demokratie?

Ankara,

Anıtkabir,

das „Grabdenkmal“: Mustafa Kemal,

der „Vater der Türken“ liegt einbalsamiert in einem

schwarz-weiß marmorierten Sarkophag. Dicke rubinrote

Absperrungsbänder in goldener Halterung trennen Ata-

türks sterbliche Überreste und den Betrachter. Das Mau-

soleum ist ein republikanischer Pilgerort. Mehrere Mil-

lionen Menschen besuchen den Ort jährlich. Türkische

Staatsbürgerkunde wird hier täglich vorgelebt: Hunderte

von Kindern noch im Grundschulalter strömen, nachdem

sie die 250 Meter lange Prunkstraße überwunden und

den Wachwechsel der Soldaten hinter sich gelassen haben,

über den weiten Platz die Treppenstufen hinauf. Sie

schauen ehrfürchtig auf den Grabstein und bewundern im

Anschluss im kostenlosen Museum das Auto des Staats-

gründers oder propagandistische Ölbilder, die Kriege vom

Beginn des 20. Jahrhunderts verherrlichen.

Auf dem Gelände des Atatürk-Mausoleums herrscht der

Neoklassizismus: monumentale Dimensionen, hünenhafte

Säulen und Löwenfiguren, Travertin und Marmor. Der

deutsche Betrachter kann sich an die Bauten des „Dritten

Reichs“ erinnert fühlen. Nichts hier entspricht der Ästhetik

islamischer Architektur; endlose in sich verschlungene Blu-

menranken und Ornamente sucht man vergebens. Das ist

kein Zufall: Alle architektonischen Entwürfe mit religiöser

Konnotation, die bei der Ausschreibung bis 1942 eingin-

gen, wurden rasch aussortiert. Wie sollte auch der Vater des

türkischen Säkularismus unter einem islamischen Kuppel-

bau seine letzte Ruhe finden?

Gute sechstausend Meter Luftlinie oder dreizehn Auto-

minuten entfernt steht die moderne

Ahmet Hamdi Akseki

Moschee

. Sie ist ein ebenso monumentales Statement wie

Atatürks letzte Ruhestätte und steht neben dem

Diyanet

(İşleri Bașkanlığı)

, dem türkischen „Präsidium für religi-

öse Angelegenheiten“. Erst 2008 wurde ihr Grundstein

gelegt. In sanften Pastelltönen gehalten trägt die Moschee

stolze sechs Minarette. Sie verbindet architektonisch ori-

entalische Ornamentik mit der schlichten Moderne, ihr

Innenraum beherbergt kunstvolle Kalligraphien, die

sofort an Istanbuls Hagia Sophia denken lassen. Hunderte

gläubige Männer haben sich zum Gebet eingefunden;

ihre Blicke richten sich abwechselnd auf den Teppich und

gen Mekka. Der Widerspruch im Selbstverständnis der

modernen Türkei manifestiert sich auch architektonisch:

Religion oder Säkularität? Welches der Prinzipien trägt

das Selbstverständnis des Landes heute?

Kemal „Atatürk“ mit seiner Frau Latife Uşşaki im Jahr 1923. Die Ehe hielt nur

zweieinhalb Jahre.

Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl