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Einsichten und Perspektiven 4 | 15
Als der Staat Israel 2002 damit begann, seine Grenze zu
den palästinensischen Gebieten mit einem Bauwerk abzu-
sichern, das an manchen für Israel besonders gefährlichen
Stellen als bis zu acht Meter hohe Mauer ausgeführt und
über die weitaus längste Strecke als technisch aufwändig
hochgerüsteter Zaun funktioniert, hat die Weltöffentlich-
keit diese Maßnahme einhellig verurteilt. Für die deut-
schen Medien war der Vergleich mit der tödlichen Mauer
sofort zur Hand, mit der die SED-Diktatur ihre Bürger an
der Flucht in die Freiheit hinderte.
Mitglieder der deutschen katholischen Bischofskonfe-
renz haben 2007 bei einem Besuch der heiligen christli-
chen Stätten in Israel und Palästina davon gesprochen, dass
die Situation jenseits der Mauer der der Ghettos ähnlich
sei, in die die Nationalsozialisten die Juden gezwungen
haben, um sie dort zu isolieren und dann zu ermorden:
„In Yad Vashem sehe ich Bilder vom Warschauer Ghetto,
und am Abend bin ich in einem wahrhaftigen Ghetto in
Ramallah“, sagte der Bischof von Eichstätt, Gregor Maria
Hanke, laut der „Frankfurter Rundschau“. Bischof Wal-
ter Mixa von Augsburg sprach von einer „Ghettoisierung“
mit beinahe rassistischen Zügen. Der Kölner Kardinal
Joachim Meisner fühlte sich an die Berliner Mauer und
sein Leben in der DDR erinnert: „So etwas macht man
mit Tieren, nicht mit Menschen.“
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Vergleiche sind Voraussetzungen für Erkenntnis. Den-
ken und Erkennen ohne Vergleich erscheinen nahezu
unmöglich. Aber der Vergleich, der im Analogen nur das
schon Bekannte affirmiert, statt das spezifische Eigene
des Gegenübers zu begreifen, kann auch schnell auf eine
abschüssige Bahn führen, auf der die subjektive Wahrneh-
mung zu einem Zerrbild gerät.
Der vom Staat Israel errichtete Sicherheitszaun dient im
Unterschied zur deutsch-deutschen Grenze und zur Berli-
ner Mauer gerade nicht dazu, Menschen an der völlig legiti-
men Wahrnehmung ihrer unabweisbaren Grundrechte auf
Freizügigkeit und Freiheit zu hindern. Der Sicherheitszaun,
mit dem sich Israel gegenüber den palästinensischen Gebie-
ten abschließt, schützt die Bürger Israels, schützt ihr Leben
und ihre Gesundheit, das in einem unfassbaren, gleichwohl
in der medialen Kommunikation bis heute verniedlichten
Maße bedroht war. Die Missachtung dieser Bedrohung
steht dabei häufig in schroffstem Gegensatz zur rhetorisch
aufgerüsteten Sorge um die vom Sicherheitszaun in ihrer
Bewegungsfreiheit eingeschränkten Bewohner Palästinas.
Aus israelischer Sicht rufen solche Einschätzungen Denk-
1 Alle Zitate:
kath.net[Stand: 06.03.2007].
muster ältester Natur in Erinnerung: Der in seinem Leben
bedrohte Israeli, der meist Jude ist, aber nicht immer sein
muss, ist für die notorisch sich kritisch gebenden Betrachter
ganz offenkundig keiner Empathie würdig.
In Israel leben acht Millionen Menschen, sechseinhalb
Millionen Juden, eineinhalb Millionen Araber. Die im
Spätherbst 2000 anhebende sogenannte zweite Intifada
brachte all diesen Menschen brutalste Gewalt; die Mör-
der kamen aus den palästinensischen Autonomiegebieten,
sie haben in drei Jahren durch Attacken, Bombenan-
schläge und Selbstmordattentate nahezu tausend Men-
schen getötet und über 5.000 teils schwer verletzt. Würde
Derartiges in der Bundesrepublik geschehen, hieße das
zugespitzt: Über zehntausend Deutsche würden von Ter-
roristen getötet, 50.000 verletzt, und die Mörder würden
aus den Nachbarländern gekommen sein. (In Paris kamen
am 13. November 2015 130 Menschen durch Terrorakte
ums Leben, am 11. September 2001 starben über 3.000
Menschen in den zusammenstürzenden Twin Towers.
Für Frankreich und die USA bedeutete dies jeweils nichts
weniger als den Eintritt in einen Krieg.)
Was kann eine demokratische, an Grundrechtsnormen
sich orientierende und durch diese sich legitimierende
Regierung tun, wenn das Land existenziell angegriffen
wird? Eine humane, eine friedliche Handlungsvariante
ist es, die Tür zuzumachen, den Zaun zu schließen. Das
ist die Funktion des israelischen Sicherheitszauns. Diese
Maßnahme ist erfolgreich: Seit der fast vollständigen
Abriegelung gibt es keine nennenswerten Attentate mehr,
die von den palästinensischen Autonomiegebieten ausge-
hen. Der Zaun wäre nur dann unnötig und illegitim, wäre
es den im Westjordanland und im Gaza-Streifen regieren-
den Institutionen – Fatah und Hamas – gelungen, den