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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum

Einsichten und Perspektiven 4 | 15

schaftliche Umgestaltung der Türkei nach den Vorstellun-

gen des Staatsgründers war frei. 

12

Atatürk brach im Zuge der gewünschten Verwestlichung

des Landes mit einer Vielzahl bedeutender Traditionen:

Neben dem Sultanat (der weltlichen osmanischen Macht)

schaffte er das Kalifat (die geistliche Oberhoheit, die bis

dahin an den Sultan gekoppelt war) ab und verbot die tradi-

tionelle orientalische Kopfbedeckung des Fes. 

13

Er unterzog

die Türkei einer umfassenden Schriftreform: Die arabisch-

12 Dabei wäre es ein grober Fehler, Atatürks Reformprogramm als Durchset-

zung von ihm erfundener Werte zu deuten: Mustafa Kemal war in erster

Linie ein Kind seiner Zeit, der bereits bestehende Ideen der Moderne ad-

aptierte. Er konnte dabei auf spätosmanische Reformbemühungen wie auf

europäische Theorien und Modelle zurückgreifen, vgl. Hanioğlu (wie Anm. 6),

S. 227ff.

13 Im „Hutgesetz“

(şapka kanunu)

von 1925 wurden alle Staatsbediensteten

verpflichtet, als „eines der sichtbarsten Zeichen des Kampfes gegen Fana-

tismus und Unwissen“ Hüte nach europäischer Mode zu tragen. Der als

griechisch „verunglimpfte“ Fes – ein kegelstumpfförmiger Filzhut – wurde

damit untersagt – was bemerkenswerterweise heftigere gesellschaftliche

Proteste hervorrief als die Abschaffung des Kalifats. In der Folge wurden

„Hutgegner“ vor republikanische „Unabhängigkeitstribunale“ gestellt und

Anführer von öffentlichen Protesten mitunter sogar zum Tode verurteilt.

Hanioğlu (wie Anm. 6), S. 210 f.

persische Schrift des Osmanischen wurde durch eine modi-

fizierte Form des lateinischen Alphabets ersetzt, 

14

nicht-tür-

kische Wörter – soweit als solche erkannt – wurden aus dem

Wortschatz verbannt. Dies bedeutete zugleich auch ein Vor-

gehen gegen religiöse Traditionen, denn die orientalischen

Zeichen waren immer auch als Schrift des heiligen Koran

interpretiert worden. 

15

Atatürk unterdrückte das autonome

14 Linguisten sind sich heute weitgehend einig, dass das modifizierte latei-

nische Alphabet der türkischen Sprache tatsächlich besser gerecht wird:

Ein Hauptproblem der Verschriftlichung des Türkischen im arabisch-per-

sischen Alphabet ist die Darstellung der Vokale. Das Osmanische war der

komplexe historisch gewachsene Versuch, drei Sprachen gänzlich unter-

schiedlicher Familien (Arabisch als semitische Sprache, Persisch als indo-

europäische Sprache und Türkisch als asiatische Turksprache) in einem

einheitlichen Sprach- und Schriftsystem zu verbinden.

15 Dazu ist sogar eine Fatwa aus dem Jahr 1910 überliefert: Die religiösen

Autoritäten des Osmanischen Reichs konstatierten, dass ein Muslim sich

an seiner Religion versündige, wenn er ein anderes als das arabische Al-

phabet verwende, vgl. Hanioğlu (wie Anm. 6), S. 217.

Ähnlich religiös aufgeladen war auch Atatürks Entscheidung, die islami-

sche Zeitrechnung durch die Einführung des Gregorianischen Kalenders

mitsamt seiner Unterscheidung in vor- und nachchristliche Zeit zu erset-

zen. Als endgültiger Bruch mit der religiösen Tradition wurde von vielen

die Einführung des Sonntags als Wochenfeiertag empfunden, der fortan

den muslimischen Freitag ersetzte.

Die Türkei nach dem Frieden von Sèvres (20. August 1920)

Karte: Großer Historischer Weltatlas, hg. v. Bayerischen Schulbuch-Verlag, Teil III., Neuzeit,

2

München 1962, S. 127.