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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
Kurden sind indes mitnichten ein homogener Block; viel-
mehr finden sich einzelne Gruppierungen in wechselnde
Allianzen zusammen. Die PKK darf nicht mit den von der
Bundesrepublik unterstützten Peschmerga-Kämpfern (den
Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan im Irak),
oder den kurdisch-syrischen Volksverteidigungseinheiten
(YPG) verwechselt werden, die sich in jüngster Zeit erbit-
terte Kämpfe mit dem IS lieferten. Die PKK gilt der Euro-
päischen Union bis heute als terroristische Vereinigung.
Ebenso wenig gleichgesetzt werden dürfen die PKK
und die HDP (
Halkların Demokratik Partisi
). Letz-
tere beansprucht für sich, eine türkische Partei zu sein,
die sich – entgegen der Beschuldigungen von Seiten der
Regierung – nicht mit der Sache der PKK gemein machen
möchte. Auch viele nicht-kurdische Türken hatten die
Partei gewählt. Das Wahlergebnis vom Juni 2015 war als
Abstrafung der seit 2002 alleinregierenden AKP des lang-
jährigen Ministerpräsidenten und derzeitigen Präsidenten
Erdoğan zu deuten. Diese hatte in den vergangenen Jahren
ihre Machtbefugnisse in den Augen vieler Wählerinnen
und Wähler überstrapaziert – was sich etwa im gewaltsa-
men Vorgehen gegen Demonstranten, den osmanischen
Großmachtphantasien Erdoğans und den jüngsten Bestre-
bungen, die türkische Demokratie in ein Präsidialsystem
umzubauen, offenbarte. Die AKP reagierte auf die Wahl-
niederlage, die die Partei erstmals in eine Koalitionsre-
gierung gezwungen hätte, mit Härte: Gegen Gegner im
Inneren, also insbesondere die HDP und die Anhänger des
in den USA lebenden konservativ-islamischen Predigers
Fethullah Gülen
25
wurde noch schärfer als zuvor vorgegan-
gen, die Presse- und Meinungsfreiheit beschnitten. Anstatt
sich dem Wählerwillen zu beugen und eine Koalition zu
bilden, rief die Regierung Davutoğlu zu Neuwahlen auf.
25 Der Streit zwischen Erdoğan und Gülen eskalierte im Dezember 2013, als
Staatsanwälte, die letzterem nahestehen sollen, Ermittlungen wegen Kor-
ruption gegen Minister der Regierung Erdoğan einleiteten. Mit der Devise
„Baut Schulen statt Moscheen“ hat die Gülen-Bewegung – einst politi-
sche Weggefährten Erdoğans – geschickt ein ideologisches Gegengewicht
innerhalb des islamischen Lagers in der Türkei aufgebaut. Die Gefahr, die
von ihr ausgeht, wird dabei höchst unterschiedlich bewertet: Die einen
sehen sie als religiöse Kraft, die den Islam mit der Moderne versöhnen
möchte, die anderen als sektenartige Bewegung vergleichbar mit
Opus
Dei,
die in Wahrheit den türkischen Staat destabilisieren oder sogar einen
Gottesstaat nach dem Vorbild Irans errichten möchte. Vgl. Özlem Topçu:
Der Feind im eigenen Lager, in: Zeit Online, 13.02.2014, online: http://
www.zeit.de/2014/08/tuerkei-guelen-bewegung/komplettansicht[Stand:
15.11.2015].
Interessante Hintergründe liefert auch Günther Seufert, tendiert dabei aber
entschieden zu den Verteidigern Gülens: Die Gülen-Bewegung in der Türkei
und Deutschland, in: bpb, 01.09.2014, online:
http://www.bpb.de/internati-onales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung [Stand: 16.11.2015].
Ein Roman vor Gericht
Der faktische Ablauf der jüngsten Wahlen wurde von
Wahlbeobachtern zwar als weitgehend fair eingestuft,
doch die Einschränkung der Meinungsfreiheit während
des Wahlkampfs spricht eine andere Sprache. Angriffe
auf HDP-Wahlkampfbüros durch AKP-Anhänger waren
an der Tagesordnung, und die Stürmung oppositioneller
Fernsehsender, die zum Teil live in deren Programmen zu
verfolgen war, zeigte eine Unerschrockenheit, wie sie in
der Türkei lange nicht beobachtet werden konnte. Das
Vorgehen gegen Andersdenkende darf dabei nicht als
absolutes Novum durch die politischen Umstände inter-
pretiert werden: Seit Jahren häufen sich die Berichte über
die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei.
Derzeit bekleidet das Land den Rang 149 von 180 Staaten
im internationalen Ranking der Pressefreiheit der Organi-
sation „Reporter ohne Grenzen“.
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Schlaglichter auf den Umgang mit anderen Meinun-
gen in der Türkei werfen die Fälle der Journalistin Canan
Coskun und der Schriftstellerin Elif Şafak: Für erstere, die
für die Oppositionszeitung
Cumhuriyet
schreibt, forderte
die türkische Staatsanwaltschaft 23 Jahre und 4 Monate
Haft, nachdem sie über verbilligte Luxuswohnungen für
regierungstreue Richter und Staatsanwälte geschrieben
hatte. Dieser Tage beginnt ihr Prozess wegen „Beleidigung
der Justizvertreter“. Die Schriftstellerin Şafak musste sich
in einem anderthalbjährigen Prozess wegen „Beleidigung
des Türkentums“ verantworten, weil sie sich in ihrem
Roman „Der Bastard von Istanbul“
27
der Geschichte der
Armenier-Verfolgung widmete: „So surreal es auch war,
vor Gericht musste mein Anwalt die fiktiven armenischen
Charaktere aus meinem Roman verteidigen“, schreibt sie
im Vorwort zur deutschen Ausgabe.
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Auch wenn die AKP mit dem neuen Wahlergebnis,
das ihr wieder die absolute Mehrheit der Sitze und damit
eine Alleinregierung ermöglicht, deutlich zufriedener
sein dürfte als mit jenem vom Juni, so hat sie doch zwei
wesentliche Ziele mit den Neuwahlen nicht erreicht: Zur
verfassungsändernden Mehrheit von 367 Stimmen und
damit zur Einführung des von Erdoğan gewünschten Prä-
sidialsystems – bisher ist seine verfassungsmäßige Stellung
in etwa mit dem repräsentativen Charakter des deutschen
Bundespräsidenten zu vergleichen – fehlen der Partei nach
26 Die Rangliste 2015 ist online einsehbar:
https://www.reporter-ohne-
grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Presse/Downloads/Ranglisten/Ranglis-te_2015/Rangliste_der_Pressefreiheit_2015.pdf [Stand: 16.11.2015].
27 Erstausgabe: Elif Shafak: The Bastard of Istanbul, New York/London 2006.
28 Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul, Berlin 2015, S. 7.