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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
Taksim
-Platz gelegenen
Gezi
-Park –, der den Protesten
ihren Namen geben sollte, war zweifelsohne nur der Trop-
fen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Erstmals für
alle sichtbar wurde bei den Protesten das große Opposi-
tionspotential innerhalb der türkischen Gesellschaft: Die
Mehrheit der Demonstranten war überdurchschnittlich
gebildet; Umfragen zufolge besaßen mehr als die Hälfte
einen Universitätsabschluss, ein weiteres Drittel waren
Studenten. Das gewaltsame Vorgehen der türkischen Poli-
zei gegen die Demonstranten mit Tränengaspatronen und
hunderten Verhaftungen trugen dazu bei, dass sich zahl-
reiche Menschen den Protesten erst anschlossen und sich
die Bewegung
„Occupy Gezi“
zu türkeiweiten Demonstra-
tionen gegen die Regierung Erdoğan ausweitete.
Das Schwächeln der türkischen Wirtschaft nach Jahren
des Wachstums, die gesellschaftlichen Islamisierungsbemü-
hungen, das gewaltsame Vorgehen gegen demokratische
Demonstrationen: Zu Beginn der Regierungszeit Erdoğans
als Ministerpräsident war all dies noch nicht absehbar. Das
in Anlehnung an die asiatischen „Tigerstaaten“ als „ana-
tolischer Tiger“ bezeichnete Wirtschaftswunder erblühte;
Erdoğan zeigte sich offen, modern, aber wertkonserva-
tiv. Seine AKP gerierte sich als eine Art türkische CDU:
Ähnlich dem C im Namen des deutschen Vorbilds, wollte
Erdoğans Partei den Islam als Wertefundament achten und
erhalten; von islamistisch-dogmatischen Ansätzen war man
scheinbar weit entfernt. Hinzu kamen die Bemühungen
um einen Frieden mit den Kurden. Erdoğan versprach
Demokratie, Achtung der Rechte von Minderheiten und
bemühte sich intensiv um einen EU-Beitritt.
Syrien als Nagelprobe des Verhältnisses der EU zur
Türkei
Heute erscheint dies als das vielleicht größte Versäumnis
der jüngeren EU-Geschichte: Eine Türkei Erdoğans in
den frühen 2000er Jahren hätte unter Umständen in die
Europäische Union integriert werden können – jedenfalls
viel mehr als heute. Während sich die Politik in Brüssel
und die Regierungschefs in den europäischen Ländern
nach zum Teil absurd wirkenden Beitrittsverhandlungen
aber nicht dazu durchringen konnten, einem muslimisch
geprägten Land, das noch dazu von einer islamischen
Regierung geführt wurde, in ihren Kreis aufzunehmen,
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36 Als Hindernisse werden von Seiten der EU Demokratie-Defizite und die
NichtanerkennungderzurEUgehörendenInselZypernangeführt.Zuletzte-
rem siehe Gülistan Gürbey: Der Zypern-Konflikt, in: bpb, 30.10.2014, online:
https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/185876/der-zypernkonflikt [Stand: 18.11.2015].
orientierte sich die Türkei unter einem immer wieder
im Amt bestätigten und erstarkenden Erdoğan um. Die
Zustimmung zu einem EU-Beitritt innerhalb der Türkei
ist seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen deutlich
gesunken. Der nicht unbegründete Eindruck, dass die
EU die Türkei lange hingehalten habe, ohne jedoch ihren
Beitritt tatsächlich zu wollen, spielt hierbei eine wesent-
liche Rolle. Ironischerweise fällt dieses Desinteresse an
der EU in der Türkei – die insbesondere aus wirtschaft-
lichen Überlegungen heraus von einem Beitritt nach wie
vor erheblich profitieren würde – genau mit der Situation
zusammen, in der die EU-Staaten und insbesondere auch
Deutschland die Türkei verglichen mit den vergangenen
Jahrzehnten am dringendsten als Partner benötigen: Die
Türkei ist mit rund 2,5 Millionen Menschen derzeit das
Land mit den meisten Flüchtlingen – global.
Mehr als zwei Millionen Syrer haben vor den Bomben
des Assad-Regimes und der Schreckensherrschaft des IS
Zuflucht in der Türkei gefunden. Der Anreiz für diese
Menschen, die Türkei zu verlassen und in die EU weiter-
zuziehen, ist dabei relativ hoch, da es für sie in der Türkei
kaum Perspektiven gibt. Auch dürften sich die Flücht-
linge im Land seit den jüngsten Anschlägen und dem
Kampfeinsatz gegen den IS weniger sicher fühlen. Andere
Gründe sprechen dagegen dafür, dass die Syrerinnen und
Syrer gerne in der Türkei bleiben wollen: Zum Beispiel
die geographische Nähe zu ihrer Heimat, in die sie hof-
fen, bald zurückkehren zu können. Die Menschen wurden
nach Ansicht vieler Beobachter angesichts der Unsicher-
heit Europas in der Flüchtlingspolitik – in welcher viele
nicht noch weitere tausende Asylsuchende an den EU-
Grenzen sehen wollen – nichtsdestotrotz von Erdoğan im
Wahlkampf als eine Art Faustpfand benutzt.
„Es hat einen bedeutenden Rückgang im Bereich der
Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegeben“,
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war von
der EU-Kommission zu vernehmen, als sie ihren jüngsten
EU-Fortschrittsbericht über die Türkei veröffentlichte, der
seinem Wesen nach vielmehr ein Rückschrittsbericht ist.
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Weitaus umstrittener als sein Inhalt jedoch war der Zeit-
punkt seiner Veröffentlichung: Der kritische Bericht der
EU-Kommission wurde zurückgehalten und erst nach den
Neuwahlen veröffentlicht. Statt den Termin einzuhalten,
37 Zit. nach der Agenturmeldung „EU kritisiert Türkei wegen Einschränkung
von Grundfreiheiten“, in: Zeit Online, 10.11.2015, online:
http://www.zeit.
de/news/2015-11/10/eu-eu-kritisiert-tuerkei-wegen-einschraenkung-
von-grundfreiheiten-10091802 [Stand: 16.11.2015].
38 So betitelte denn auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre Berichter-
stattung: Hendrik Kafsack: Brüsseler Rückschrittsbericht. EU bescheinigt
Türkei Defizite, in: FAZ vom 11.11.2015, S. 5.