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Die Türkei 2015: Atatürks Albtraum
Einsichten und Perspektiven 4 | 15
Republik: Die PKK, 1978 in einem Dorf in der Provinz
Diyarbakır gegründet, versetzte mit ihren Anschlägen
auch auf zivile Ziele, Selbstmordattentaten, Besetzungen
und Selbstverbrennungen nicht nur die Türkei, sondern
auch westeuropäische Städte in Angst und Schrecken; der
türkische Staat schlug hart zurück. Der Konflikt forderte
tausende Menschenleben.
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Dass die Türkei aber freiwillig
die kurdisch bevölkerten Gebiete im Herzen Ostanatoli-
ens aus ihrem Staatsgebilde entlässt, ist nahezu undenkbar.
Das abermalige Scheitern des Friedensprozesses im
Sommer 2015 zwischen Staat und PKK, der von Erdoğans
Partei einst so hoffnungsvoll eröffnet wurde, zeigt, wie
fragil, möglicherweise sogar irreparabel die Beziehungen
zwischen Türken und ihren Kurden sind. Der Friedens-
prozess wurde von der Regierung des Ministerpräsiden-
ten Ahmet Davutoğlu aufgekündigt. Kurdische Lesart:
wegen des Erfolges der HDP mit Spitzenkandidat Sela-
hattin Demirtaş bei den Parlamentswahlen im Juni 2015,
der die Partei als ernstliche Konkurrenz erscheinen ließ.
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Nach Ansicht der bis dahin alleinregierenden AKP wurde
der Prozess dagegen beendet, weil die PKK die „nationale
Einheit und Brüderlichkeit“ angreife. Nach dem Anschlag
von Suruç im Juli 2015 mit über 30 Toten (für den die
Regierung zwar den IS verantwortlich machte, in dem
viele Kurden jedoch eine Mitschuld der Regierung sehen,
da diese die Aktivitäten der Terrormiliz zu lange gedul-
det habe) verübte der militärische Arm der PKK mehrere
Attentate auf türkische Polizisten. Das türkische Militär
bombardiert seither rigoros PKK-Stellungen und nimmt
dabei auch zivile Opfer – eigene Staatsbürger – in Kauf.
Bei dieser Diskussion sollte allerdings nicht vergessen
werden, dass die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kur-
den in der Türkei nicht zuletzt von mangelnden staatlichen
Integrationsbemühungen im Hinblick auf die kurdischen
Gebiete im Osten des Landes zumindest befeuert wurden
und werden. Eine Reise in die Region um Diyarbakır, das
als „heimliche Hauptstadt der Kurden“ gilt, macht auch
heute noch eine frappierende strukturelle Unterentwick-
lung sichtbar; betroffen sind unter anderem Wirtschaft,
Infrastruktur und Bildungseinrichtungen. Nachdem den
22 Die ausufernde Gewalt insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren
wurde bis heute auf keiner der beiden Seiten aufgearbeitet.
23 Als erster kurdisch geprägter Partei gelang es der „Demokratischen Par-
tei der Völker“ (HDP) bei den Parlamentswahlen im Sommer 2015, die
Zehn-Prozent-Sperrklausel – sie erreichte 13,12 Prozent der Stimmen –
zu überwinden und damit ins Parlament einzuziehen. Zu den Ergeb-
nissen der Wahl vgl. das amtliche Ergebnis
http://www.ysk.gov.tr/ysk/content/conn/YSKUCM/path/Contribution%20Folders/SecmenIslemleri/
Secimler/2015MV/D.pdf [Stand: 16.11.2015].
Kurden in Artikel 62 des Vertrags von Sèvres Autonomie
zugesagt wurde und sogar die staatliche Unabhängigkeit
in Aussicht gestellt worden war, blieb dieser Anspruch
mit der Revidierung des Vertrags unerfüllt. Im Vertrag
von Lausanne kam der Passus nicht mehr vor. Im Zuge
der Neuordnung der europäischen Staatenwelt nach dem
„Selbstbestimmungsrecht der Völker“ waren die Kurden,
die sich als eigenes Volk identifizierten, also schlicht über-
gangen worden – heute leben sie in Teilen der Türkei, des
Iran, Irak und Syriens. Bei vielen Beobachtern stößt die
„kurdische Sache“ vor diesem Hintergrund auf Verständ-
nis, bei manchen – insbesondere links-intellektuellen
Gruppen in Europa – aber ist geradezu eine sehr proble-
matische Romantisierung der PKK festzustellen.
24
Die
24 Einen interessanten Eindruck aus Diyarbakır dazu liefert die Journalistin
Muriel Reichl: Die linke Kurdenfolklore, in: Zeit Online vom 10.08.2015,
online:
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-08/pkk-kurden-linke-tu-erkei [Stand: 15.11.2015]. Die sozialistische Rhetorik der PKK, vor allem
in den Schriften ihres Anführers Abdullah Öcalan nachzulesen, ist für so
manchen westlichen Beobachter eine willkommene und als weniger be-
drohlich wahrgenommene „Abwechslung“ zur islamistischen Ausrichtung
vieler anderer Gruppen der Region. In einer gewissen Revolutionsromantik
wird – neben den indiskutablen Terrorakten mit etlichen zivilen Opfern –
oft vergessen, dass es zum Beispiel gerade die erzkonservativen kurdi-
schen Familientraditionen sind, die etliche junge Frauen als Kämpferinnen
in die Berge zur PKK ziehen lassen, um vermeintliche Freiheiten zu erlan-
gen – schwerlich also ein Signal für die kurdische Fortschrittlichkeit in
Sachen Frauenemanzipation.
Das Amara-Kulturzentrum in der türkischen Grenzstadt Suruç an der Grenze
zu Syrien. Am 20. Juli 2015 wurden hier mehr als 30 Menschen vermut-
lich von einem IS-Attentäter bei einem Selbstmordanschlag ermordet. Der
Anschlag war der Auslöser für die Beendigung des Waffenstillstands zwischen
der PKK und dem türkischen Staat. Aufnahme: Suruç, 20. Oktober 2015.
Foto: ullstein bild/Fotograf: Christian Ditsch