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Einsichten und Perspektiven 3 | 15
Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“
Er antwortete: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu
errichten!“
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Erstmals fiel das Wort „Mauer“, und nach
dem 13. August galt dieser Satz als dreiste Lüge, um die
Vorbereitungen der DDR auf die Absperrung der Berliner
Sektorengrenze zu vertuschen. Ulbricht stellte allerdings
klar, dass nach der Umwandlung West-Berlins in eine
„freie Stadt“ das Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge
sofort geschlossen werde.
Ulbricht reagierte mit seiner Pressekonferenz auf Chru-
schtschows Ultimatum, die steigenden Flüchtlingszah-
len und die wachsende Unzufriedenheit in der DDR.
Ein Alarmsignal kam Anfang Juni aus Oranienburg und
Hennigsdorf. Der Ingenieur Helmut Newrzella, der beim
Lokomotivbau-Elektrotechnische Werke (LEW) tätig war,
verfasste einen Brief an Ulbricht, für den er im Betrieb 30
Unterschriften sammelte. Der drückte in knapper Form
die Versorgungskrise der arbeitenden Bevölkerung aus:
„Betrifft: Fragen zur Versorgungslage in der DDR.
Mit größter Besorgnis beobachten wir die Wiederein-
führung der Rationierung von Butter, Abgabe 1/8 Kilo
nach Kundenliste pro Familie, und die mangelhafte Ver-
sorgung mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln wie
Kartoffeln, Brot, Obst, Gemüse sowie Fleisch und Wurst-
waren. Wir fordern:
1. Sofortige Beseitigung dieser anormalen Zustände!
2. Eine konkrete Stellungnahme zur Entstehung der Miss-
stände. Unseres Erachtens durch die übereilte Kollekti-
vierung der Landwirtschaft hervorgerufen.
3. Die Absetzung der für die Missstände Verantwortlichen.
Soll das der Lohn sein für unsere jahrelange intensive Mit-
arbeit am Aufbau der Volkswirtschaft der DDR?“
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Der West-Berliner RIAS sendete am 21. Juni 1961 um
5:35 Uhr seinen Brief. Er ist ein authentisches Dokument
über die Lebensumstände der „Werktätigen“ im „Arbeiter-
und Bauernstaat“ im Juni 1961, die zur erneuten Massen-
flucht führten. Ulbricht nahm ihn ernst und zitierte ihn
gegenüber Chruschtschow in Moskau als Beleg dafür, dass
die Unzufriedenheit sich auch in Streiks und Unruhen
äußern könnten. Newrzella floh nach West-Berlin, wei-
tere Unterzeichner wurden verhaftet und zu langjährigen
Gefängnisstrafen verurteilt.
Wer aber verantwortete aus politischer Sicht die Mauer?
Ulbricht brauchte sie, das steht außer Frage, aber er war
nicht Herr der Entscheidung.
Chruschtschow selbst hatte über seine Verantwortung
für diese Maßnahme keine Zweifel gelassen. In einem
Gespräch mit dem Botschafter der Bundesrepublik, Hans
Kroll, am 9. November 1961 äußerte er: „Man wirft uns
außerdem vor, dass wir die Grenze in Berlin geschlossen
haben. Ich leugne das nicht. Natürlich hätte die DDR
ohne uns die Grenze nicht geschlossen. Wozu sollen wir
uns hier hinter dem Rücken von Gen[ossen] Ulbricht ver-
stecken? Der ist doch in diesem Fall gar nicht so breit.
Natürlich, wir haben die Grenze geschlossen, das geschah
auf unser Betreiben hin.Technisch hat das die DDR durch-
geführt, weil das eine deutsche Frage ist.“
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Der Ablauf des
Entscheidungsprozesses, Berlin endgültig zu teilen, bestä-
tigt die letztendliche Verantwortung von Chruschtschow
in all seinen Phasen. Anfang Juli informierte Ulbricht den
sowjetischen Parteichef, dass er angesichts der Flüchtlings-
zahlen die Existenz der DDR bei offener Grenze in Berlin
nicht mehr garantieren könne.
Die politische Entscheidung fällte Chruschtschow um
den 20. Juli; zugleich beauftragte er den Oberbefehlsha-
ber der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutsch-
land (GSSD)“, die Generalstabskarte für die Schließung
der Sektorengrenze auszuarbeiten. Danach bestätigte
Chruschtschow selbst den Plan der Grenzziehung am
8. August in Moskau. Ulbricht hatte drei Minister der
DDR-Regierung beauftragt, die Grenzschließung mit
ihren bewaffneten Kräften durchzuführen: Innenminister
Maron, Minister für Staatssicherheit Mielke und Vertei-
digungsminister Hoffmann. Die Befehlsausgabe an sie,
die Operation durchzuführen, erfolgte am 10. August im
Hauptquartier der GSSD durch den sowjetischen Mar-
schall Iwan S. Konew. Die Operation sollte am 13. August
um 0:00 Uhr beginnen.
Chruschtschow erlaubte Ulbricht, Berlin mit Stachel-
draht zu teilen und eine Mauer zu errichten. Aber Ulbricht
musste seine Hoffnung auf einen separaten Friedensvertrag,
der ihm die Kontrolle über die Transitwege nach West-
Berlin übertragen hätte, begraben und damit seine Hoff-
nung auf die völkerrechtliche Souveränität seiner DDR
auch gegenüber Moskau. Die Sowjetunion hielt am Vier-
Mächte-Status von Berlin fest.
4 Dies sagte er am 15.6. auf einer Pressekonferenz.
5 Zit. nach Wilke (wie Anm. 2), S. 297 f.
6 Gespräch Chruschtschows mit dem Botschafter der Bundesrepublik Hans
Kroll, 9.11.1961, zit. nach Wilke (wie Anm. 2), S. 446.