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Die „Mauer in den Köpfen“

Darauf, dass nicht nur die Ostdeutschen, sondern auch

die Westdeutschen eine Verlusterfahrung zu bewältigen

hatten, hatte ja schon 1995 der konservative Intellektu-

elle Johannes Gross hingewiesen: „Die bisherige Stabilität

der Bundesrepublik, im kontinentaleuropäischen Raum

durchaus ein Unikat, war für die Westdeutschen zu einer

Heimat geworden, aus der vertrieben zu werden über-

aus schmerzlich ist.“ 

4

Die Bonner Republik erscheint bis

heute manchem als verlorene, „bessere“ Republik gegen-

über einer vermeintlich nur noch gewinnorientierten „Ber-

liner Republik“. 

5

Zum parodistischen Angriff aus dem

Westen holte indes die von mehreren Titanic-Redakteu-

ren gegründete Partei „Die Partei“ aus, indem sie mit satiri-

schem Unterton – dem laut einer Forsa-Studie angeblichen

Wunsch von 30 Prozent der Deutschen folgend – 2011 als

wichtigstes Ziel den Neubau der Mauer verkündete; es gebe

„ein psychologisches Grundbedürfnis, sich vom Nachbarn

abzugrenzen. Besonders vom Ostdeutschen“, nahm deren

Parteichef Sonneborn ironisch-provokativ Stellung. 

6

Der „Mauer in den Köpfen“ auf der Spur

Am konkretesten fassbar wird die „Mauer in den Köpfen“

in den regelmäßig gepflegten Umfragen von Meinungs-

forschungsinstituten, die das Ost-West-Verhältnis anhand

repräsentativer Personenkreise ausforschen. Wie man es

erwarten würde, zeichnet sich dabei im Ganzen ein Trend

zu Angleichung von Ost und West ab. Zum 25-jährigen

Gedenken an den Fall der Mauer 1989 konstatierte eine

Studie der Universität Halle-Wittenberg, die Deutschen

betrachteten das erste Vierteljahrhundert im Ganzen als

Erfolgsgeschichte, das Phänomen der Ostalgie, also der

Sehnsucht nach dem Leben in der DDR, habe sich deut-

lich abgeschwächt; allerdings sei dies auch eine Frage der

Generationen. 

7

Sieht man auf die genaueren Indikatoren

der Studie, ergibt sich ein differenzierteres Bild, das aber

noch deutliche Spuren von Friktionen und Enttäuschun-

gen zeigt. Die Erfahrung vieler ehemaliger DDR-Bürger,

„das Ende dieses Staates [der DDR] und die Wiederver-

einigung häufig zunächst als Befreiung und Chance und

dann als Verlusterfahrung begriffen zu haben“, findet sich

auch in literarischen oder filmischen Zusammenhängen. 

8

In der genannten Studie gaben aber immerhin auch 29

Prozent der Westdeutschen an, die Wiedervereinigung sei

„kein Gewinn“ gewesen. 

9

Eine im Rahmen der Enquete-Kommission des Land-

tags Brandenburg mit dem Titel „Aufarbeitung der

Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur

und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat

im Land Brandenburg“ hatte 2011 in der Öffentlichkeit

relativ viel Aufmerksamkeit gefunden: 

10

Dort wurde etwa

in den Kategorien „Assoziationen zur DDR“, 

11

„Gewin-

ner und Verlierer der Einheit“, 

12

oder „Anerkennung der

Lebensleistung der Ostdeutschen“ 

13

ein sehr durchwach-

senes Gefühl der brandenburgischen Befragten in der ver-

einigten Bundesrepublik im Vergleich zu ihrem Leben

in der DDR deutlich. Immerhin gaben zwar 60 Prozent

an, „den Menschen in den neuen Bundesländern gehe es

heute im Vergleich zur Zeit vor der Wende besser.“ 

14

Bei

der im Meinungsstreit symbolhaften Kategorie, ob denn

die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen sei, antworteten die

befragten Brandenburgerinnen und Brandenburger mit

einer deutlichen Mehrheit (57 Prozent), dies sei nicht der

Fall gewesen; 

15

eine Antwort, die im Blick auf die Mauer,

die Menschenrechtsverletzungen und die ungerechten Bil-

dungschancen in der DDR erstaunt. Laut einer Umfrage

der in Brandenburg veröffentlichten „Märkischen Allge-

meinen“ sah eine Mehrheit auch Anfang 2014 die Mauer

in den Köpfen noch als existent an, wobei sich signifikante

Unterschiede nach Parteizugehörigkeit abzeichneten: „Laut

4 Vgl. Johannes Gross: Begründung der Berliner Republik. Deutschland am

Ende des 20. Jahrhunderts, 2Berlin 1997, S. 31.

5 Als Beispiel für diesen Tenor s. Daniel Erk: Es war einmal ein kleines Land,

in Zeit online v. Daniel Erk vom 28. Oktober 2014: „Wenn sich also, laut

einer Erhebung ausgerechnet der Initiative Soziale Marktwirtschaft, 60

Prozent der Ostdeutschen in dieser neuen Bundesrepublik nicht wohl füh-

len, dann könnte das weniger an der Bundesrepublik liegen, als an dieser

Art der Wiedervereinigung – beziehungsweise daran, dass im Einheitstau-

mel ein neues, anderes Land zusammengeschustert wurde, das auch mit

der Bonn-BRD nicht mehr viel zu tun hatte.“ Zit. nach:

http://www.zeit.de/ kultur/2014-10/brd-ende-mauerfall

[Stand: 12.09.2015].

6

http://www.taz.de/!5114416/

[Stand: 12.09.2015].

7 Vgl. Taniev Schultz: Mauerreste, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.02.2015;

Thorsten Denkler/Jens Schneider: Einigkeit und Recht und Frohsinn, in:

ebd.

8 Vgl. Gerhard Jens Lüdeker/Dominik Orth: Zum Begriff und zur Bedeutung

von Nach-Wende-Narrationen, in: dies. (Hg.): Nach-Wende-Narrationen.

Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, Ein-

leitung, S. 11.

9 Ebd.

10 Das DDR-Bild der Bevölkerung des Landes Brandenburg, Forsa-Frage v.

24. November 2011 im Auftrag der Enquete-Kommission 5/1 des Landtags

Brandenburg, „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen

der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat

im Land Brandenburg“, Berlin 2011.

11 Ebd., S. 13–16.

12 Ebd., S. 17 f.

13 Ebd., S. 15–28.

14 Ebd., S. 19.

15 Ebd., S. 91.