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Einsichten und Perspektiven 3 | 15
Zum Auftakt des Mauerfall-Gedenkjahres 2014 berich-
teten Zeitungen über ein erstaunliches Phänomen aus
dem Tierreich: Zoologen hatten im Böhmerwald, an der
deutsch-tschechischen Grenze, bei Rothirschrudeln ein
auffälliges Verhalten beobachtet: Einige Tiere – darunter
vor allem weibliche Exemplare mit Nachwuchs – scheuten
offensichtlich vor einer nicht physisch erkennbaren Linie
zurück und änderten abrupt die Richtung ihrer Fortbewe-
gung. Man fand heraus, dass die betroffenen Exemplare
dabei genau die Linie der ehemaligen mit Stacheldraht
gesicherten Grenze zwischen Bayern und der ehemaligen
tschechoslowakischen Sowjetrepublik ČSSR vermieden –
und dies 25 Jahre, nachdem die ehemaligen Sperranlagen
abgebaut worden waren.
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Dieses Verhalten ist bemerkens-
wert, da es sich aufgrund der normalen Lebenserwartung
von Rotwild in freier Wildbahn – sie beträgt ca. 15–18
Jahre – bei den beobachteten Exemplaren nicht um Tiere
handeln kann, die selbst noch negative Erfahrungen mit
Grenzsicherungsanlagen gemacht haben. Sie müssen diese
Verhaltensweise von älteren Tieren vermittelt bekommen
haben – sie haben offenbar eine „Mauer im Kopf“.
Die Symbolkraft dieser Vorgänge bietet sich im Jahr 25
nach dem Fall zur Analogiebildung an. Das Bild von der
„Mauer in den Köpfen“ steht für eine der meist strapazier-
ten Befindlichkeitsdiskussionen in der medialen Öffent-
lichkeit der Bundesrepublik seit der deutschen Einheit
1989/90. So wie die Hirsche im Böhmerwald objektiv
gesehen keinen Hinderungsgrund mehr hätten, sich wie-
der frei in ihrem Lebensraum zu bewegen, so sei es auch
um das Verhältnis von West- und Ostdeutschen bestellt:
Rein objektiv habe das Land die Belastungen der Wieder-
vereinigung gut gemeistert, die Lebensverhältnisse hätten
sich weitgehend angeglichen, die deutsche Trennung sei
längst Geschichte; doch im „Kopf“, also Bereich mentaler,
kultureller wie weltanschaulicher Einstellungen, bestünde
bei vielen Ost- wie auch Westdeutschen das Gefühl der
gegenseitigen Fremdheit und des Anders-Seins fort. Der
britische Historiker Frederick Taylor formulierte das im
Oktober 2014 in einem Interview mit dem Deutsch-
landfunk so: Er sehe, dass das Gefühl der „Mauer in den
Köpfen“ „viel stärker gewesen“ sei und nun zusehends
nachlasse:
„
Da kommt eine ganze neue Generation, und
die Leute, auch die, die älter sind, haben sich irgendwie
arrangiert mit der ganzen Sache. Es ist in einigen Städten,
denen es vielleicht nicht so gut gegangen ist seit der Wie-
dervereinigung, […] diese Ostalgie […], weil das Leben
für viele Leute, in mancher Hinsicht, […] im Osten besser
[war], als sie jetzt ist. […] Ich finde, die Mauer ist noch da,
im Kopf sozusagen, aber sie wird immer kleiner.“
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Was meint die „Mauer in den Köpfen“?
Wer zuerst den Begriff der „Mauer in den Köpfen“ ver-
wendete, ist nicht ermittelbar. Er hat sich als geläufiges
Schlagwort für die Befindlichkeitsmessung im wiederver-
einigten Deutschland etabliert und erfüllt die Funktion
einer Art „Pulsmesser der Nation“. Im Kern des Bildes
steht die These, dass als Spätwirkung der Trennung bei-
der deutschen Teile bis 1989/90 sich kulturelle und welt-
anschauliche Differenzen so weit entwickelt haben, dass
sie bis heute fortwirken, wahrnehmbar sind und auch
(politisch instrumentalisierbares) Konfliktpotential ber-
gen. Eine präzise Beschreibung dieser Differenzen scheint
kaum möglich, geht es sich doch um subjektive Wahrneh-
mungen, Gefühle, Momentaufnahmen, die kaum genera-
lisierbar sind. Doch eignet sich dieses diffuse Konglomerat
gut für den Meinungsstreit in Umfragen, Talkshows und
literarischen Zusammenhängen. Die Frontlinien werden
dabei imWesentlichen mit begrifflichen Dichotomien aus
den Zeiten des Kalten Krieges abgesteckt. Typische auf
Westdeutschland/Westdeutsche übertragene negative Ste-
reotypen lauten etwa, ganz der alten Auseinandersetzung
von Kapitalismus und Kommunismus folgend: Die west-
deutsche Gesellschaft sei geprägt durch ein rücksichtsloses
Streben nach Gewinn, es ginge nur um Materielles, der
Raubtierkapitalismus habe sich ungezügelt durchgesetzt,
in der Gesellschaft herrsche soziale Kälte und Unmensch-
lichkeit im Umgang; vice versa wird der ostdeutschen
Gesellschaft der Mangel an Individualismus und Eigen-
initiative, Passivität, Obrigkeitshörigkeit, Gleichmacherei,
Opferhaltung und so fort vorgeworfen. Unzählige Bei-
spiele für Schwarz-Weiß-Denken dieser Art weit über den
Mauerfall hinaus verdeutlichen dies, z.B. Daniela Dahn
mit ihrer Kampfschrift „Wehe dem Sieger!“ aus dem Jahr
2009, in dem sie den Triumph westlicher Eliten als „Sie-
ger der Geschichte“ beklagt, dem Osten eine moralische
Überlegenheit zuspricht und ganz in der Manier des klas-
sischen kommunistischen Internationalismus schließlich
im Aufruf „Prekarier aller Länder, vereinigt euch!“ endet.
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Doch auch an westalgischen Epitaphen fehlte es nicht.
1 Z.B.
http://www.berliner-zeitung.de/wissen/territorium-die-mauer-in-den- koepfen-der-hirsche,10808894,25973646.html[Stand: 14.09.2015].
2 S.
http://www.deutschlandfunk.de/25-jahre-mauerfall-die-mauer-im-kopf-ist- immer-noch-da.694.de.html?dram:article_id=299322[Stand: 09.09.2015].
3 Daniela Dahn: Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen, Reinbek bei
Hamburg 2009, S. 294.