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Kain denk mal – böse
Einsichten und Perspektiven 3 | 15
Entebbe 1976 – ein in Deutschland marginalisiertes
Verbrechen
Es mag erstaunen, dass eines der schlimmsten und fol-
genreichsten Verbrechen, an dem deutsche Linksterro-
risten in den 1970er Jahren wesentlich beteiligt waren,
in Deutschland – außer in der unmittelbaren Folge des
Geschehens – insgesamt eher wenig Beachtung fand und
in der kollektiven Erinnerung bis heute eher eine nachran-
gige Rolle spielt: die Entführung und Geiselnahme eines
französischen Passagierflugzeugs am 27. Juni 1976. An
Bord der Air-France-Maschine, die von Tel Aviv aus mit
einem Zwischenstopp in Athen auf dem Weg nach Paris
war, befanden sich ca. 250 Personen.
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Die palästinen-
sisch-deutsche Terroristengruppe ging in Athen an Bord
und brachte das Flugzeug kurz nach dem Start in seine
Gewalt; der weitere Weg führte über Libyen nach Entebbe
in Uganda. Das Ziel der deutsch-palästinensischen Ter-
rorgruppe war es, im Austausch mit den entführten isra-
elischen Geiseln inhaftierte Terroristen freizupressen; um
den Druck zu verschärfen, drohten sie die Gefangenen
sukzessive zu erschießen.
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Der das Kommando leitende
Wilfried Böse und seine Komplizen verstanden sich als
„Anti-Imperialisten“. Im Vordergrund ihres Handelns
stand die rücksichtslose Durchsetzung ihrer ideologischen
Interessen; über „Kollateralschäden“ ihres politischen
Kampfes gingen sie skrupel- und rücksichtslos hinweg.
Während schon die Entführung so vieler Menschen inter-
national Entsetzen hervorrief, nahm die Tat von Entebbe
eine besonders bedrückende Dimension an: Das (zunächst)
vierköpfige Terrorkommando (Codename: „Che Guevara“)
bestand aus zwei palästinensischen Tätern aus der Gruppe
PFLP-SC, die dem palästinensischenTerroristenWadi Had-
dad unterstand, aber auch aus zwei deutschen Akteuren aus
dem linksterroristischen Milieu. Brigitte Kuhlmann und
Wilfried Böse gehörten den sogenannten „Revolutionären
Zellen“ an, einer neben der „Roten Armee Fraktion“ und
der „Bewegung 2. Juni“ weiteren linksgerichteten Terror-
gruppe. Als bekannt wurde, dass Kuhlmann und Böse im
Hangar des Flughafens von Entebbe eine Selektion der Gei-
seln durchgeführt hatten, bei der sie die jüdisch-israelischen
Passagiere von den übrigen Entführten trennten und als
Geiseln behielten, löste dies weltweites Entsetzen aus:
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Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager hatten
Deutsche einer jüngeren Generation wieder Israelis, dar-
unter einige Überlebende des Holocaust, in ihre Gewalt
gebracht und eine Selektion jüdisch-israelischer Menschen
vorgenommen. Die Parallele zu den Verbrechen des Holo-
caust lag offen zutage; hier entpuppte sich die „dunkle Aura
des deutschen Linksterrorismus als Wiedergänger der deut-
schen Geschichte“,
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wie es Ulrich Herbert ausgedrückt hat.
Dieser Vorfall löste vor allem in Israel großes Entsetzen aus:
„Für die deutschen Juden […] markierte Entebbe einen tie-
fen Einschnitt. Sie waren schockiert darüber, dass sich hier
erstmals seit der Befreiung von Auschwitz wieder Deutsche
anmaßten, jüdische Zivilisten allein aufgrund ihrer Zugehö-
rigkeit zum jüdischen Volk in ihre Gewalt zu bringen; und
ebenso schockiert waren sie darüber, dass dies seitens der
deutschen Öffentlichkeit kaum beanstandet bzw. von Tei-
len der außerparlamentarischen Linken mit Verweis auf die
Besatzungspolitik des Staates Israel gar noch gerechtfertigt
wurde.“
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Shimon Peres, damals israelischer Verteidigungs-
minister, kommentierte: „Das Bild von einer deutschen Frau
und einem deutschen Mann, die wieder einmal Pistolen auf
wehrlose Juden hielten, konnte kein Israeli verwinden.“
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Insgesamt forderte das Verbrechen ca. dreißig Men-
schenleben, wobei die genaue Bilanz bis heute umstritten
bleibt: Es starben sieben Terroristen (in Entebbe waren
zum Entführerkommando weitere palästinensische Kom-
plizen hinzugestoßen), vier Geiseln (darunter Dora Bloch,
eine Holocaust-Überlebende, die während der Entführung
erkrankte, ins Krankenhaus eingewiesen wurde und nach
der Befreiungsaktion in Kampala ermordet wurde), ein
israelischer Offizier und ca. 20 ugandische Soldaten. Dazu
kommen möglicherweise ungezählte kenianische Staats-
bürger in Uganda.
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Die Terroristen steuerten als Zielort
1 Die in der Literatur angegebenen Zahlen und Faktion divergieren häufig,
vgl. allgemein: Annette Vowinckel: Der kurze Weg nach Entebbe oder die
Verlängerung der deutschen Geschichte in den Nahen Osten, in: Zeithis-
torische Forschungen 2 (2004), online-Version s.
http://www.zeithistori- sche-forschungen.de/2-2004/id%3D4742[Stand: 11.09.2015]; Christian
Frey: Entebbe 1976 – Vorbild aller Kommando-Unternehmen, in:
http:// www.welt.de/geschichte/article144149310/Entebbe-1976-Vorbild-aller- Kommando-Unternehmen.html;[Stand: 11.09.2015]; Wolfgang Kraus-
haar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006.
2 Vgl. Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevo-
lution 1967–1977,
2
Frankfurt am Main 2004, S. 409.
3 Die Crew blieb bei den Geiseln, die anderen Geiseln wurden freigelassen.
4 Vgl. Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München
2014, S. 928.
5 Vgl. Vowinckel (wie Anm. 1).
6 Zitat in: Thomas Riegler: Terrorismus. Akteure, Strukturen, Entwicklungs-
linien, Innsbruck 2009, S. 235, zit. nach ders.: Rezension v. Shelley Harten:
Reenactment eines Traumas: Die Entebbe Flugzeugentführung 1976, in:
http://www.sehepunkte.de/2014/05/24570.html#fn9[Stand: 11.09.2015].
7 Die englische Wikipedia-Seite zu „Operation Entebbe“, s.
wikipedia.org[Stand 12.8.2015] spricht von diesem nirgends genauer belegten, vermut-
lich auch nicht mehr verifizierbaren Umstand: Idi Amin soll aus Rache
dafür, dass Kenia den israelischen Militärs auf dem Rückflug von Entebbe
eine Zwischenlandung erlaubt hatte, zum Mord an Kenianern in Uganda
aufgerufen haben.