kombinationen abgenutzt, welche
frisch oder originell sind.
Mit welchen Kriterien gehen Sie an
ein literarisches Werk heran?
Wissen Sie, ich bin kein Frauenarzt,
der einen Koffer mit Instrumenten zur
Hand hat und der nachsieht, ob be–
stimmte Symptome feststellbar sind.
Die Maßstäbe müssen sich ergeben,
indem ich mich auf den Gegenstand
einlasse. Ich möchte das vergleichen
mit einem Rubbelmalbuch, in dem die
Bilder zum Vorschein kommen, wenn
man mit einem Stift lange genug über
die Seiten reibt. Ich kann also nicht
sagen, Kunst muß so oder so be–
schaffen sein.
Welche Rolle spielen die Kritiker ei–
gentlich im Literaturbetrieb?
Ihre Meinung hat durchaus Gewicht,
wenngleich es sicher etwas eingebil–
det wäre zu meinen, ein Buch sei nur
deshalb ein Erfolg geworden, weil
man es gelobt hat. Beim Theater
spürt man diesen Bezug schon deutli–
cher; wenn ein Kritiker die Auffüh–
rung einer kleinen Bühne verreißt,
dann ist das für die schon sehr unan–
genehm, und es bedeutet manchmal
vielleicht, daß dieses Stück abgesetzt
werden muß.
Welcher Gewinn ergibt sich aus dem
Lesen von guter Literatur?
Kurz gesagt, man erweitert sein eige–
nes Wahrnehmungsvermögen, be–
kommt ein bißchen meh'r Respekt,
auch Angst vor dem, was im Men–
schen angelegt ist, und erhält eine Art
Gegenbild zu dem, was man schon
weiß. Zu nennen wären hier sicher
noch viele andere Dinge.
Welche zum Beispiel?
Sehen Sie, wenn jemand Thomas
Mann wirklich gelesen und verstan–
den hat, dann fühlt er in sich die
Möglichkeit einer ironischen Abwehr
gegen das, was er sonst vielleicht gar
nicht aushalten würde. Oder wenn
Sie sich mit dem Roman "Jahresta–
ge" von Uwe Johnson beschäftigen,
dann werden Sie sehr schnell mer–
ken, daß all das, was in der DDR
1989 passiert · ist, · in diesem Staat
längst vorher angelegt war.
Eine beliebte Frage: Welche drei Bü–
cher würden Sie auf eine einsame ln–
sei mitnehmen?
Das wird Sie jetzt überraschen, aber
ich würde mir keine Bücher mitneh–
men, die leicht zu konsumieren sind,
sondern solche, mit denen ich mich
immer wieder beschäftigen kann.
Das Fern–
sehen
macht den
Leuten
doch die
geistigen
Kauwerk–
zeuge
kaputt.
Meine Wahl fiele wohl auf die "Gött–
liche Komödie" von Dante, vielleicht
auf "Krieg und Frieden" von Tolstoi,
Hölderlins Hymnen oder etwas von
Thomas Mann.
Und Goethes Faust?
Den kann ich fast auswendig, der ist
mir sozusagen ohnehin gegenwärtig.
Wie steht es mit Werken, die nach
1945 geschrieben wurden?
.
Ich bin in der Gruppe 47 groß ge–
worden, kenne die meisten Autoren
dieser literarischen Bewegung per–
sönlich- da sind schon fabelhafte Fi–
guren dabei. Aber all das ist mir
schon zu vertraut, um es auf eine ein–
same Insel mitzunehmen.
Welcher von diesen Autoren hat Sie
am meisten beeindruckt?
Max Frisch! Der war zwar vielleicht
noch kein absolutes Genie, aber
doch so gut, wie man als Schriftsteller
nur sein kann. Bei ihm hatte ich das
Gefühl, daß ich in der Nähe ernes
wahrhaft originellen Menschen bin.
Dieser Einfallsreichtum, dieser Witz,
das war unglaublich!
Derzeit macht das Schlagwort vom
"Verfall der Lesekultur" die Runde.
Ist diese Klage berechtigt?
Zum Lesen gehört eine gewisse Kon–
zentration und die Fähigkeit, sich et–
was vorstellen zu können. Da wir
nicht belesen auf die Weit kommen,
muß man dafür viel Zeit aufbringen.
Ich halte hier das Alter zwischen 12
und 18 Jahren für entscheidend. ln
dieser Zeitspanne sollte das Wichtig–
ste gelesen, der seelische Organis–
mus mit Worten aufgetankt werden.
Wenn nun diesen wichtigen Lebens–
abschnitt eine - wie auch immer ge-
.artete - Fernsehkultur in Anspruch
nimmt, dann wird die Lücke, die da–
durch entsteht, später nur schwer auf–
füllbar sein.
Warum ist das Fernsehen eine so
große Konkurrenz für das Lesen?
Weil es eine große Attraktivität be–
sitzt. Ich denke dabei allerdings nicht
an die bi ll igen Showsendungen -die
finde ich nicht einmal so schlimm. Die
eigentliche Gefahr dieses Mediums
liegt für mich auf einem anderen Ge–
biet. Wenn zum Beispiel ein Film über
Hölderlin gesendet wird, so zeigt
man Tübingen, den Turm, in dem der
Dichter gelebt hat, zeigt wehende
schwäbische Kornfelder, erzählt vom
traurigen Ende dieses Mannes und
bringt dazu kleine Zitate. Der Zu–
schauer hat nun das Gefüh l, daß er
tatsächlich über diesen Dichter und
sein Werk Bescheid weiß. Sich solche
Sendungen zu Gemüte zu führen ist
natürlich unendlich viel leichter, als
auch nur eine einzige Hymne Hölder–
lins zu verstehen. Und deshalb be–
haupte ich, daß das Fernsehen den
Leuten die geistigen Kauwerkzeuge
kaputtmacht.
Sind also allein die modernen Me–
dien an der Misere schuld?
Nein, hinzu kommt noch etwas ande–
res. Ich fürchte, wir sind von einer un–
geheuren Kulturlüge umgeben. Viele
Leute tun heute so, als ob sie beinahe
alles gelesen hätten; angefangen bei
den zahlreichen Romanen von Bal–
zac über Tolstoi .bis hin zum späten
Goethe. Oft steckt dahinter natürlich
reine Angeberei. Aber· das schreckt
ab, und gerade die jungen Leute, oh–
nehin schon durch das Fernsehen
vom Lesen abgehalten, finden dann
zu dieser Weit überhaupt keinen Zu–
gang mehr.
Wie kann man Kinder und Jugendli-
SCHULE
aktuell
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