Mein Ansatzpunkt ist also durchaus
sehr verschieden und hängt vom je–
weiligen Gegenstand und vom Lese–
publikum ab, für das ich schreibe.
Haben Sie, als prominenter Kritiker,
sich bei Ihrer Arbeit auf einen be–
stimmten Bereich festgelegt?
Nein,. nein, das wäre riskant. Wer
sich etwa nur noch großen kulturellen
Ereignissen wie in Bayreuth oder
Salzburg widmet, der verliert die Be–
ziehung zur gesamten Wirklichkeit.
Man darf sich auch für das Kleine,
Mittlere, Entlegene in Kunst und Kul–
tur nicht zu schade sein. Erst neulich
fragte mich ein Schüler, ob ich nicht
die Theatervorstellung an seinem
Gymnasium besprechen könnte.
Selbstverständlich ist so etwas denk–
bar. Warum nicht?
W.e
ist es bei uns um das kulturelle
Leben bestellt? Gerät es angesichts
der wirf$chaftlichen Fragen, die heu–
te im Vordergrund stehen, unter die
Räder?
Ja, das ist eine Sache, die einen
schon kränken könnte. Politiker se–
hen in den schönen Künsten gerne ein
Aushär~geschild,
mit dem · man sich
schmücken kann; doch wenn es ernst
wird, werm es ums Geld geht, dann
hat die Kultur nichts mehr zu sagen.
Dagegen muß man sich wehren. An–
dererseits beneidet uns die ganze
Weit um unser hoch subventioniertes
Theater. Viele wissen allerdings gar
nicht, daß dahinter ein hehrer An–
spruch steckt, der seine Wurzeln im
18. und 19. Jahrhundert hat, etwa bei
Goethe oder Humboldt.
Könnten Sie das näher erläutern?
Man glaubte damals, wenn ein jun–
ger Mensch mit großer Kunst zusam–
menkommt, den Faust oder den Fide-
6 .SCHULE
aktuell
lio auf der Bühne erlebt, daß dies
sehr wichtig für die Bildung des Ge–
müts, der Seele, ja der ganzen Per–
sönlichkeit sei. Diese Chance sollte
es auch heute geben, aber nicht nur
in den großen Zentren, sondern auch
in Städten wie Augsburg, Würzburg
oder Kiel. Wenn sich allerdings das
Theater aus dieser Verpflichtung da–
vonstiehlt, nur noch Unterhaltung
bieten will, dann ist diese Idee ganz
eindeutig gefährdet.
Und wo liegt die Ursache dafür?
ln den 60er, 70er und 80er Jahren
wollte das Theater mehr bewirken,
als es leisten kann. ln jedem Stück
wurde man auf ungeheure Weise be–
lehrt, alles mußte politisch durch–
schaubar sein. Die Schauspieler wa–
ren dann enttäuscht, wenn sie nicht
die beabsichtigte Wirkung erzielten–
die Leute zwar klatschten, aber sich
nicht veränderten. Leider führte die–
ses politisierende Element dazu, daß
Zwischen
12 und 18
Jahren
sollten
die wich–
tigsten
Werke ge–
lesen
werden.
Wenn es
ums Geld
geht,
dann hat
die Kul–
tur oft
nichts
mehr zu
sagen.
man das, was wirklich in den Stücken
steckt, nicht mehr ernst genug nahm.
Weil sich das Theater übernommen
hat, leistet es heute oft nicht einmal
das, was seine ureigenste Aufgabe
wäre. Wenn Sie in die "Maria Stuart"
gehen, dann können Sie nicht mehr
sicher sein, daß Sie einen anständi–
gen Schiller geboten bekommen. Sol–
che Verluste gibt es auch im Bereich
der Sprache. Wer etwa den "König
Lear" von Shakespeere gänzlich wie
ein Konversationsstück aufführt, der
beraubt ihn einer Kunstdimension,
nämlich des Verses.
Fehlt das Kunstvolle auch in der mo–
dernen Literatur?
Das würde ich nicht sagen. Vielleicht
ging die Bereitschaft des Lesepubli–
kums verloren, sich darauf einzulas-
. sen. Wenn heute ein Botho Strauß
oder ein Peter Handke feinsinnig,
manchmal sogar zu feinsinnig,
schreiben, so ·stoßen sie auf einen
sehr kleinen lnteressentenkreis. Das
Kunstvolle kommt in den Geruch des
Sektiererischen, des Esoterischen,
und da muß man gegensteuern. Des–
halb bespreche ich einen Gedicht–
band von Sarah Kirsch, der nur in ei–
ner geringen Auflage erscheint, ge–
nauso umfangreich wie das Werk
des Bestsellerautors Simmel.
W.e
würden Sie Kunst definieren?
Von Kunst kann man dann sprechen,
wenn ein Autor oder ein Komponist
imstande ist, mit dem, was er sagen
will, den Formbestand, also zum Bei–
spiel die Sprache oder die Töne, so
zu mobilisieren, daß etwas Neues
dabei entsteht. Der Schriftsteller hat
das Material Sprache vor sich; damit
muß er umgehen können, muß ein
Gespür dafür besitzen, welche Wort-