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Schüler und Leh–

·rer sind eine Ge–

meinschaft.

Manchmal sogar

auf Leben und Tod.

D.

as Jahr 1945 ist erst

wenige Monate alt.

lndenstillenWaldtä–

ern an ·derbayerisch–

öhmischen Grenze

beginnt die Schneeschmelze.

Von dem großen Krieg, der Euro–

pa seit 1939 verheert, hat man

hier noch wenig gespürt. Doch

am 18. April1945, vier Stunden

nach Mitternacht, holt sein

Grauen die ländliche Idylle ein.

Fliegeralarm! Sirenen reißen

_die Stadt Cham aus dem Schlaf.

Dann dröhnen die viermotori–

gen Maschinen heran . Ihre

Bombenlast pfeift, heult und

zischt hernieder, verwandelt

das Gelände um den Bahnhof

in ein Chaos.

Stunden später irrt zwischen

Feuerwehr und Sanitätern auch

eine Schar Kinder durch die

SJIINE

Ruinen . Knapp 13

oder 14 Jahre sind

·

sie alt. Mit ver–

störten . Gesichtern

suchen s1e den Rest

ihrer

Schulklasse.

Die Steine liegen

auf dem Friedhof

einer bayerischen

Kreisstadt. Sie er–

zählen ein Kapitel

Schulgeschichte

aus Deutschlands

dunkelster Zeit.

An den Tagen des

Totangedenkens

im Herbst soll es

zu uns sprechen.

Schließlich bergen sie fünf

ver–

letzte und sieben tote Kamera–

den . Das Stück Sakkostoff an

einem abgerissenen Unterarm,

den sie finden, gibt ihnen die

grauenvolle Gewißheit: Auch

unser Lehrer ist tot, zerfetzt

von

den Bomben .

Das sind die letzten Bilder

einer Tragödie, die genau 200

Tage vorher begann, an einem

über 1000 km entfernten Ort.

Jahrelang ist SCHULE & WIR

den verwehten Spuren dieser

Schulkinder und ihres Lehrers

nachgegangen, hat Überleben–

de und Zeugen gesucht. Aus

den Bruchstücken ihrer Erinne–

rung entstand dieser Bericht.

Er beginnt 1944, weit im

Südosten Europas. 'Dort, wo

Donau und Theiß zusammen–

fließen, im sogenannten Banat

(s. Karte S. 19), leben seit 250

Jahren Deutsche. Man nennt

sie "Donauschwaben". Eine

ihrer vielen Siedlungen heißt

Karlsdorf. Hier gibt es im Som–

mer 1944lange Ferien .

Gasthäuser, der Kinosaal und

auch das Schulhaus sind mit

deutschen Soldaten belegt. An

Unterricht ist nicht zu denken .

Dafür trägt der Ostwind Kano–

nendonner herüber. Rumänien,

der frühere Verbündete Hitler–

Deutschlands, ist vor kurzem

ins sowjetische Lager überge–

schwenkt Durch diese plötzli–

che Lücke in der Abwehrfront

stößt nun die Sowjetarmee un–

aufhaltsam nach Westen vor in

Richtung Donau.

über Nacht ist ·so auch das

friedliche Karlsdorf in den Stru–

del des großen Krieges geraten.

Die erste Sorge der Banater gilt

jetzt ihren Kindern. Unter der

Obhut der Lehrer will man sie

so schnell wie möglich nach

Deutschland

in

Sicherheit

bringen.

Es ist Sonntag, der 1. Okto–

ber 1944. Auf der Bahnstation

Karlsdorf wimmelt es von Men–

schen . Koffer, Kisten, Körbe mit

Verpflegung und Winterklei–

dern werden angeschleppt. Ei–

tern umarmen die Kinder. Letz–

te Ermahnungen, Tränen, Ab–

schiedsworte.

Als endlich der Transportzug

heranrollt, geschieht etwas Un–

faßbares: Er hält nicht! Bre–

chend

voll

mit verwundeten

Soldaten, Flüchtlingsfamilien

und Kindern aus den weiter öst–

lich gelegenen Teilen des Ba–

nats, kann er niemanden mehr .

mitnehmen.

Viele geben jetzt auf, der

Bahnsteig beginnt sich zu lee–

ren. Da ergreift ein blutjunger

Lehrer die Initiative. Ludwig

Schwan, kaum 24 Jahre alt, un–

terrichtet erst seit zwei Jahren

an der Hauptschule Karlsdorf.

Von Anfang an hat er das Ver–

trauen der Eitern . Obwohl er

streng ist und viel verlangt im

Unterricht, mögen ihn auch die

Kinder. Warum?

"Er war unser Kamerad, wie

ein älterer Bruder" - "Wir ha–

ben aus Begeisterung für ihn

gelernt wie die Wilden, nur um

ihn nicht zu enttäuschen" -

"War ein Kind krank, besuchte

er es zu Hause, brachte ihm et–

was zum Lesen ." Mit diesen

Worten errinnern sich einige

seiner Schüler noch 40 Jahre

später an diesen Lehrer. Im Ge–

dächtnis geblieben ist auch sein

Schulchor, der so gut war, daß

er sogar im Soldatensender Bel–

grad und auf Schallplatten zu

hören war.

jetzt, an diesem 1. Oktober

1944, im Durcheinander am

Bahnsteig Karlsdorf schätzt

Lehrer Schwan die Lage reali–

stisch ein : "Hier ist doch alles

verloren! Die Kinder müssen

t.Jnbedingt fort!" bestürmt er die

Eitern. Dann läuft er los, orga–

nisiert von einer Bäckereikom–

panie drei Lastwagen. Wäh–

rend der Kampflärm

von

der

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