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Die Bayerische Verfassung in der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
1. Popularklagen
Mit der Popularklage kann geltend gemacht werden, eine
Rechtsnorm des bayerischen Landesrechts – also ein Gesetz,
eine Rechtsverordnung oder eine Satzung – verstoße gegen
Grundrechte der Bayerischen Verfassung. Es handelt sich
somit um eine verfassungsgerichtliche Normenkontroll-
klage. Die Zahl der Popularklagen ist beachtlich. Seit Beste-
hen des Verfassungsgerichtshofs sind über 1.400 Popular-
klagen eingegangen, jährlich sind dies etwa 20 Verfahren.
Man kann sagen, dass beinahe jede neue bayerische Rechts-
vorschrift, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert
wird, über kurz oder lang mit der Popularklage angegriffen
wird. Zuletzt wurden zum Beispiel Popularklagen gegen die
Altersgrenze für berufsmäßige Bürgermeister und Landräte,
das System des geräteunabhängigen Rundfunkbeitrags nach
dem Rundfunkbeitragsstaatsvertrag, die Beschränkungen
für das Veranstalten öffentlichen Glücksspiels nach dem
Glücksspielstaatsvertrag sowie dagegen erhoben, dass nach
der Bayerischen Bauordnung Windkraftanlagen grundsätz-
lich nur errichtet werden dürfen, wenn sich im Umkreis des
Zehnfachen ihrer Höhe keine Wohnbebauung befindet.
Die Erfolgsquote in Popularklageverfahren liegt bei etwa
elf Prozent im langjährigen Durchschnitt.
Die Popularklage ist eine bayerische Besonderheit. Sie
zeichnet sich dadurch aus, dass jedermann sie erheben
kann. Die Popularklage setzt kein besonderes Rechtsschutz
interesse des Antragstellers voraus. Er muss keine eigene
Grundrechtsverletzung geltend machen. Die angefochtene
Rechtsvorschrift braucht ihn überhaupt nicht zu berühren.
Das gibt es sonst in keiner deutschen Verfassung, weder auf
Landes- noch auf Bundesebene. Man könnte also Popular-
klage gegen das gesetzliche Verbot, Kampfhunde zu züchten,
erheben, auch wenn man überhaupt keinen Kampfhund
besitzt und sich auch keinen anschaffen will. Was steckt hin-
ter dieser Verfahrensart, was ist der Sinn der Popularklage?
Sie dient nicht in erster Linie dem Schutz der verfassungs-
mäßigen Rechte des Einzelnen, sondern bezweckt, geboren
aus den Erfahrungen des „Dritten Reichs“, im öffentlichen
Interesse den Schutz der Grundrechte als Institution. Jeder-
mann kann so zum Hüter der Verfassung werden.
In der Praxis sind allerdings die Bürgerinnen und Bür-
ger, die Popularklage erheben, meistens von der angegrif-
fenen Norm auch tatsächlich betroffen. Sie haben also
in der Regel doch ein persönliches Interesse am Ausgang
des Verfahrens. Die Antragsteller in den Verfahren zu
den Kampfhunden, die es tatsächlich gegeben hat, waren
Züchter und Halter von Kampfhunden.
Durch die Popularklage wird gewährleistet, dass der Lan-
desgesetzgeber die rechtliche Leitfunktion der Bayerischen
Verfassung beachtet. Häufig geben Popularklagen Anlass
zur Klärung grundlegender verfassungsrechtlicher Fragen
und zur verfassungsgerichtlichen Auslegung einzelner Ver-
fassungsnormen. Man spricht insoweit von der Interpreta-
tionsfunktion des Verfassungsgerichtshofs. Die Verfassung
als Grundregel für das Zusammenleben im demokratischen
Staat weist naturgemäß einen hohen Abstraktionsgrad auf
und muss deshalb für die Anwendung auf einen konkreten
Fall in der Regel erst näher präzisiert werden. Die Verfas-
sung wird also durch die Verfassungsrechtsprechung mit
Leben erfüllt und in der Verfassungswirklichkeit umgesetzt.
Hierzu ein Beispiel:
In einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus
dem Jahr 1997 ging es um die Frage, ob das durch einen
Volksentscheid beschlossene Gesetz zur Einführung des
kommunalen Bürgerentscheids gegen Normen der Bayeri-
schen Verfassung verstoße. Das Gesetz sah unter anderem
vor, dass Gemeindebürger über Angelegenheiten des eige-
nen Wirkungskreises der Gemeinde in einem Bürgerent-
scheid abstimmen können. Für die Abstimmung war kein
Quorum, also keine Mindestbeteiligung vorgeschrieben.
Demonstration auf dem Münchner Marienplatz für das Volksbegehren „Mehr
Demokratie in Bayern“
Foto: SZ Photo/dpa