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„With human beings you never know“
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Das
Kigali Memorial Center
liegt am Rande der Haupt-
stadt und ist die zentrale Gedenkstätte des Landes. In dem
groß angelegten Areal gibt es ein Amphitheater als Ver-
sammlungsstätte, von dem man einen weiten Blick auf die
mittlerweile wieder auf weit über eine Million Einwoh-
ner angewachsene Stadt vor der Kulisse der ruandischen
Hügellandschaft hat. In einer Art Rosengarten befinden
sich vierzehn riesige Betonplatten, die nur an kleinen Stel-
len durch eingelassenes Glas den Blick auf eine Art Sarg-
tuch freigeben. An den Betonplatten ist der Hinweis ange-
bracht, dass man die Würde des Ortes respektieren und
nicht auf sie treten solle und schließlich, dass sich unter
jenen Betonplatten die Überreste von 250.000 Menschen
befinden. Nach den Morden, als die Hauptstadt Kigali
voller verwesender Leichen war, hat man diese Massen-
gräber für rund eine Viertelmillion Menschen errichtet.
Im dazugehörigen Dokumentationszentrum wird diese
Geschichte erzählt: Neben Knochen und Schädeln werden
auch Lebensgeschichten und Bilder einzelner Menschen
vorgestellt, um der anonymen, schier unfassbar großen
Zahl der Ermordeten ein Gesicht zu geben. Das Gespräch
mit dem Mitarbeiter des Dokumentationszentrums zeigt
deutlich, dass man über so manches auch nach 20 Jahren
schwerlich reden kann. Es drängt sich der Eindruck auf,
dass man eine differenzierende Geschichte der Täter und
Opfer weder schreiben noch zulassen will.
Im ersten Stock dieses Dokumentationszentrums gibt
es schließlich einen Raum, der den Holocaust beschreibt
und die deutsche Geschichte sehr deutlich zeigt – von der
Ausgrenzung der Juden im Alltag bis hin zu Treblinka als
Beispiel menschenverachtender Massenvernichtung.
Bei der ersten Reise im Februar 2015 trifft die deutsche
Konferenzgruppe zufällig auf eine Delegation mit Außen-
minister Frank Walter Steinmeier, der einen Kranz auf
eine der Betonplatten gelegt hat. Es ist keine Zeit für lange
Gespräche. Natürlich müsse jeder Besuch aus Deutsch-
land an diesen Ort führen, sagt er uns und fragt seiner-
seits, was unsere Gruppe hierher führe. Wir verweisen auf
die Tagung und betonen, dass wir auf Spurensuche seien
für einen vergleichenden Erinnerungsdiskurs.
Murambi – rund 30km nördlich von Kigali gelegen –
ist ein Ort, den man nie wieder vergisst. Eigentlich konnte
man bereits nach flüchtigen Vorerkundungen im Internet
gewarnt sein, denn dort wird darauf verwiesen, dass ein
Besuch schwer zu verdauen und daher für manche viel-
leicht nicht angeraten sei. Den Weg dorthin nimmt man
erneut durch eine friedvolle Hügellandschaft. Der Erin-
nerungsort liegt auf einer Erhebung, umrahmt von vielen
weiteren Hügeln; bis 1994 war er ein Schulungszentrum
mit zahlreichen Unterrichtsgebäuden. Systematisch wurden
dorthin Tutsis aus der gesamten Umgebung zusammenge-
trieben. Wer flüchten wollte, wurde auf den benachbarten
Hügeln eingefangen und gegebenenfalls erschossen. Als bis
zu 50.000 Menschen dort versammelt waren, riegelte man
die gesamte Umgebung endgültig ab, siedelte die Bevölke-
rung in der unmittelbaren Nachbarschaft, die Zeuge wer-
den konnte, um und kappte schließlich die Nahrungs- und
Wasserversorgung. Systematisch wurde die Eliminierung
vorbereitet. Mit Hilfe des Militärs und dessen Handgrana-
ten und Handfeuerwaffen begann in der Nacht zum 21.
April das Morden. In den Morgenstunden war „die Arbeit
getan“ und geschätzt 45.000 Menschen erschlagen. Nur 34
überlebten unter den verstümmelten Leichen. Fliehende
wurden zumeist auf der Flucht noch erschlagen.
Es ist ein junger Mann in einer dezenten Uniform, der
uns zu einem riesigen Massengrab führt und dann zur Aus-
stellung begleitet. Film- und Fotoaufnahmen dürfen wir
nicht machen, da wir das Material missbrauchen könnten
für eine Leugnung oder eine andere Version des Gesche-
hens. Am Eingang der Ausstellung steht der Satz von Apol-
lon Kabahizi, eines Überlebenden auf der Tafel: „Als sie
„Niemals wieder“ nach dem Holocaust sagten, war dies nur
für einige Menschen gemeint, für andere aber nicht?“
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Nach dem Rundgang durch das Dokumentationszen-
trum begleitet uns der junge Mann über das Gelände
und lässt uns eintreten in das erste Klassenzimmer: Dort
6 Die Tafel in der Landessprache Kinyarwanda, Französisch und Englisch
im Wortlaut:
„When they said ‚Never again‘ after the Holocaust, was this
meant for some people and not for others? Appolon Kabahizi, survivor.“
Unter vierzehn dieser Betonplatten ruhen die Überreste von über 200.000
Ermordeten im Kigali Memorial Center.