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„With human beings you never know“
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Vermeintliche Ethnien, politische Verwerfungen und
wirtschaftliche Zwänge
Die Kolonialmächte hatten die herrschenden Eliten unter-
stützt und damit die Tutsi wesentlich privilegiert. Nicht
nur im ideellen Sinne, da man durch die absurde euro-
päische Rassenkunde die „Überlegenheit“ dieser Gruppe
beschwor, sondern auch durch den exklusiven Zugang zu
den Schulen. Diese Kolonial- (und Missions-)schulen bil-
deten die afrikanische Elite aus, welche für den belgischen
Staat die Verwaltung aufrecht erhielt und damit auch die
Kontrolleure für die Abgabensysteme sowie Zwangsarbeit
stellte. Dies führte nicht nur zu einer Abgrenzung von den
überwiegend den Hutu zugerechneten Bauern, sondern in
vielen Fällen auch zu Neid und Missgunst.
Als die Tutsi in ihrem Denken und in ihren Forderun-
gen selbstständiger und gegenüber den Kolonialherren
kritischer wurden und zudem auf manchen Missionssta-
tionen die Ungerechtigkeiten gegenüber den Hutu deut-
licher wahrgenommen wurden, veränderten die Kolonial-
herren allmählich ihre Politik. Sie förderten nun verstärkt
auch die Hutu, vor allem durch eine zunehmende Schul-
bildung und stärkere Integration ins Herrschaftssystem.
Zu einem Dreh- und Angelpunkt wurde schließlich die
Machtübernahme der Hutu und die damit eingeleitete
Selbständigkeit Ruandas im Jahr 1959. Denn nachdem
der ruandische König, den ein belgischer Arzt behandelt
hatte, gestorben war, machte man für dessen Tod die bel-
gischen Kolonialherren verantwortlich und bezichtigte
sie, die Hutu zu unterstützen. Die Lage eskalierte und
eine erste Kampagne gegen die Tutsi begann. Die Revolu-
tion von 1959 und die Unabhängigkeit 1962 verschoben
endgültig die Machtverhältnisse. Eine starke Triebkraft
entwickelte dabei unter Hutu-Eliten nun das Fortschrei-
ben der rassistischen Abgrenzung: Man griff auf das
Gedankengut der Europäer zurück und definierte nun
die Tutsi nicht nur als nicht volkszugehörige Ruander,
sondern als später eingewanderte Ethnie, die das eigent-
liche Volk der Hutu ausbeute und die es zum eigenen
Lebens- und Machterhalt zu vertreiben oder gar zu töten
gelte. Bereits in der ersten Regierung des unabhängigen
Ruanda etablierte sich die Idee eines durchzusetzenden
„Hutu-Nationalismus‘“.
Linda Melvern schreibt zur Vorgeschichte des Völker-
mordes, dass in den Jahren zwischen 1959 und 1994
die Idee des Genozids ein selbstverständlicher „Teil des
Lebens“ geworden sei.
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Schon vor dem großen Morden im
Jahr 1994 gab es zahlreiche blutige Auseinandersetzungen,
die man zum Teil bereits als „kleine Genozide“ bezeich-
nete und dementsprechend auch Vertreibungen und eine
Flucht mancher Tutsi außerhalb des Landes. Hier nahmen
die bürgerkriegsähnlichen Situationen vom Anfang der
1990er Jahre ihren Ausgang.
8 Linda Melvern: Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westli-
chen Welt, Kreuzingen 2004.
Traditionelle Versorgung durch Boote auf dem Kiwusee, der Grenze zwischen Ruanda und der demokratischen Republik Kongo