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„With human beings you never know“

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

renden Stämmen setzte sich ein Stammesführer durch

und begründete durch Einverleibung anderer das König-

reich, das bis ins 20. Jahrhundert Bestand haben sollte.

Wer heute das

King’s Palace Museum

in Nyanza besucht,

kann erahnen, wie diese Herrschaft strukturiert war: Die

königliche Familie entstammte der Führungselite der

Tutsi, die das Land beherrschte, Hof hielt, Recht sprach

und die berühmten Langhörner-Rinder als Zeichen des

Reichtums und des Herrschaftsanspruches hielt.

Etwa 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung stellten dage-

gen die Ackerbau treibenden Hutu. Zwar gab es innerhalb

der Elite auch Hutu, außerdem kam es mitunter zu einer

Vermischung und soziale Aufstiegsmöglichkeiten waren

ebenfalls prinzipiell vorhanden, dennoch blieben die meis-

ten Hutu tendenziell eher arme Bauern. Die Tutsi hatten

die politisch-militärische Macht inne. Doch weil den Hutu

übernatürliche Kräfte nachgesagt wurden, scharte der

König am Hof auch einen Beraterstab aus Hutu um sich.

Erst im 19. Jahrhundert kam es zu einer Bodenreform

und damit zu Umverteilungen, die aus manchen Hutu

Abhängige der regionalen Tutsi-Eliten, vergleichbar mit

Leibeigenen, machten und die soziale und ökonomische

Ungleichheit vertieften. Grundsätzlich ist festzuhalten,

dass es sich trotz dieser Gesellschaftsschichten um ein

Volk handelte, das sich über Jahrhunderte auf dem glei-

chen Territorium befand und – eine absolute Besonderheit

in den Ländern des subsaharischen Afrika – eine einzige

gemeinsame Sprache nutzte: Auch heute beherrschen zwi-

schen 80 und 90 Prozent aller Menschen nur ihre gemein-

same Muttersprache

Kinyarwanda

.

Am Ende des 19. Jahrhunderts teilten bekanntermaßen

die Kolonialmächte Afrika untereinander auf. Ruanda

wurde dem deutschen Reich zugeschlagen und der soge-

nannten deutschen Kolonie Ost-Afrika unterstellt. Bereits

im Ersten Weltkrieg besetzten Belgier aus Belgisch-Kongo

strategisch wichtige Positionen und 1917 sprach der Völ-

kerbund das Land schließlich Belgien zu. Sowohl Deut-

sche wie Belgier kontrollierten das Land durch eine soge-

nannte indirekte Herrschaft: Man baute keine eigene

Verwaltungsstruktur auf, sondern arbeitete mit der herr-

schenden Elite und damit den Tutsi zusammen.

Die Kolonialmächte begannen, die zunächst gesell-

schaftlichen, offenen Kategorien der Schichtzugehörig-

keit nach rassistischen Kriterien mitsamt wirtschaftlicher

Zuschreibung neu zu definieren. So wurde eine sehr viel-

fältige Gesellschaft, die über Jahrhunderte hinweg den

Austausch zwischen einzelnen Gruppen ebenso gekannt

hatte wie sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg und in

der man zudem neben der gleichen Sprache auch densel-

ben Glauben, dieselben Kulturformen und Traditionen

teilte, in kurzer Zeit zu einer Gesellschaft einzelner „Ras-

sen“. Insgesamt drei waren dabei für die Kolonialmächte

auszumachen: Zum ersten die Tutsi, eine aus dem Niltal

eingewanderte Minorität, im Sinne der damals vertrete-

nen hamitischen Unterscheidung sozusagen berufen zur

Herrschaft, angeblich hochwüchsig und eher hellhäutig.

Sie verdienten ihren Lebensunterhalt vornehmlich mit der

Rinderzucht. Zum zweiten die Hutu, die eher als boden-

verhaftet, servil und kulturell unterlegen geltenden, ansäs-

sigen dunkelhäutigen Bauern mit gedrungenem Körper-

bau. Zum dritten schließlich die Twa, eine verschwindend

kleine Minderheit, die nicht so deutlich einzuordnen war

und weder Rinderzüchter noch Bauern waren, also jene

„Rasse“ der Sammler, Töpfer, etc.

Die Zuordnung nahm kuriose und zugleich folgenrei-

che Formen an: Bei einer Volkszählung in der Mitte der

1930er Jahre wurde etwa einfach nach dem Besitz von

Rindern entschieden, ob man zu den Tutsi (mit mehr

als zehn), den Hutu (nur wenigen) oder Twa (gar keine)

gehörte. Nach dieser Volkszählung wurde die entspre-

chende Rasse, als „Ethnie“ oder „Volksstamm“ in den Per-

sonalausweis eingetragen.

Die Kennzeichnung als „Tutsi“ sollte einige Jahrzehnte

später während des Genozids für viele Menschen das

Todesurteil bedeuten. An Straßensperren wurden die Pässe

der Menschen kontrolliert und sie – je nach angegebener

ethnischer Zugehörigkeit – entweder ermordet oder lau-

fen gelassen. Dieser Teil der Erzählung – und damit auch

die Abbildung der Pässe – fehlt daher in keinem der gro-

ßen Dokumentationszentren in Ruanda. Zweifellos war

diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Kolonialver-

waltung geschaffene Stereotypenbildung und Zuordnung

mörderisches Gift für die weitere Entwicklung Ruandas.

Doch andere wirtschaftliche und politische Faktoren, die

zumindest Teilaspekte des Völkermordes erklären und

seine Vielschichtigkeit beschreiben können, werden darü-

ber vernachlässigt – sozusagen eine

untold story

. Damit sei

auf die gleichnamige BBC-Dokumentation verwiesen, die

in Ruanda nach Aussagen unserer Begleiter verboten ist.

7

Hier wird die komplexe Geschichte des Völkermordes und

seiner Gründe aus differenzierter Sicht dargestellt.

7 Die Dokumentation „

The untold story

“ wurde aus Anlass des 20. Jahresta-

ges des Genozids 2014 von der BBC produziert. Sie hinterfragt die Rolle

der RPF (Ruandische Patriotische Front) und den Mord an den gemäßigten

Hutu im Rahmen der Massenmorde und allgemein der Übergriffe gegen-

über Hutu während der Beendigung des Völkermordes durch die RPF. Der

Film führte zu massiven Auseinandersetzungen zwischen der ruandischen

Regierung und der BBC.