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„With human beings you never know“

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

das in einer Haltung des „Wir-oder-sie“ eskaliert. Drit-

tens schließlich kulminiert dieses beschworene Reinheits-

bedürfnis in der Herbeiführung einer endgültigen und

unwiderruflichen Lösung durch Beseitigung und Elimi-

nierung nicht nur der Bedrohung, sondern des Anderen.

14

Manche Analogien sind greifbar. Wer die Sprache der

Demagogen bei

Hate Radio

analysiert oder die damaligen

Karikaturen der Zeitschrift

„Kangura“

betrachtet, wird an

die Reden auf den Reichsparteitagen und den radikalen

Rassismus von Julius Streichers „Stürmer“ erinnert. Hier

wie dort wurde eine Gruppe zutiefst entmenschlicht,

als „Ungeziefer“, „Ratten“ und „Kakerlaken“ bezeichnet

und damit der Boden für den Mord bereitet. Besonders

erschütternd sind die Interviews, die Jean Hatzfeld mit

Opfern und Tätern führte, die wörtlich bestätigen: Die

Tutsis wurden nicht mehr als Menschen, nicht einmal

mehr als Geschöpfe Gottes betrachtet.

15

Erschreckend für uns, die wir den Spuren in Ruanda

nachgehen, stellt sich die Erkenntnis dar, dass dieses Mor-

den „ein Genozid der Nähe und der Nachbarschaft, nicht

14 Vgl. Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension

von Massakern und Völkermorden. Hamburg 2007.

15 Vgl. Jean Hatzfeld: Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ru-

andas, Gießen 2004, sowie zu den beeindruckenden Interviews mit den

Tätern Jean Hatzfeld: Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des

Völkermordes in Ruanda, Gießen 2004.

der Ferne und der Deportation war“,

16

wie es Milo Rau

formuliert. Aber das Zerbrechen einer früheren gemein-

samen Lebenswelt mit gemeinsamen Leidenschaften und

Problemen, bleibt als verbindendes Element gegenüber

der eigenen, deutschen Geschichte. Und ebenso manche

Mosaiksteinchen, wie die Begeisterung der Täter für ein

erfüllendes Projekt. Eine Generation war herangewach-

sen, die eine Mischung aus Destruktivität, Nihilismus und

dem enttäuschten Wunsch nach einer echten, erfüllenden

Revolte prägte. Und wie die damalige Studentin Dorcy

Rugamba im Rückblick formuliert: „Meine Großeltern

haben für die Unabhängigkeit gekämpft, meine Eltern

haben Ruanda aufgebaut – und für meine Generation war

das einzige Projekt der Genozid.“ 

17

Die 100 Tage und die Verantwortung des Westens

Der 6. April 1994 gehört zu den einschneidenden Daten

der ruandischen Geschichte. Die Maschine des Präsiden-

ten Juvénal Habyarimana wird beim Landeanflug in Kigali

abgeschossen und alle Insassen sterben. Regierungsvertre-

ter beschuldigen die Tutsi-Rebellen, noch in der Nacht

beginnt die Präsidentengarde, Oppositionelle zu ermorden

und im Radio wird zur Eliminierung aller Tutsi im Lande

aufgerufen. Der Anlass war nun gegeben, den Völkermord

an den Tutsi systematisch zu starten. Längst waren Todes-

listen vorbereitet worden, Tausende von Macheten an die

Bevölkerung verteilt. Die Propaganda hatte die Köpfe vor-

bereitet, um Hand anzulegen an jene, die als „Feinde“ sys-

tematisch erschaffen worden waren. Die Angst vor einem

vorrückenden Feind wurde geschürt und damit der eigene

Nachbar zur Bedrohung. Der Genozid sollte 100 Tage

dauern und mindestens 800.000 Menschen, Regierungs-

angaben sprechen gar von 1,174 Millionen, das Leben

kosten. Die Zahlen können nur Schätzungen sein, vor

allem hinsichtlich der Zuordnung der Opfer: Denn neben

den Tutsi wurden auch gemäßigte Hutu in großer Zahl

ermordet und beim Vorrücken der RPF, die dem Morden

ein Ende setzte, wurden ebenfalls viele Hutu getötet.

Die internationalen Reaktionen auf diesen unfassbaren

Ausbruch der Gewalt gehören zweifellos zu den dunkelsten

Stunden der internationalen Staatengemeinschaft, ihrer Ins-

titutionen und Vertreter. Sie lassen sich nur aus der Gemen-

gelage der machtpolitischen und postkolonialen Interessen

der einflussreichsten Industriestaaten und mancher zählebi-

16 Rau (wie Anm. 9), S. 22.

17 Ebd., S. 26, der Bericht von Dorcy Rugumba: Die verwöhnten Kinder der

dritten Welt, S. 122–130.

Hotel Ruanda - ein bewegender Film über die Geschichte des Genozids aus

dem Jahr 2004

Foto: Interfoto/Mary Evans/United Artists/Six Sense Productions/Miracle

Pictures/Ronald Grant Archive