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Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Der Laizismus Atatürk’scher Prägung bedeutet also Kon­

trolle der Religion und nicht wie das klassische französische

Vorbild eine Trennung von Staat und Glaube?

Ja, da ist sich die Wissenschaft einigermaßen einig. Wobei

unter Mustafa Kemal die Religion sehr zurückgedrängt

wurde. Seither wird sie nun auch als Mittel des Regierens

und als Ideologie eingesetzt, ganz anders als das unter Ata-

türk gemacht wurde. Genau dagegen wenden sich die heu-

tigen Kemalisten. Wenn man sich aber einige Prinzipien

des Hochkemalismus ansieht, findet man sie noch heute

in der Türkei. Dass das Land eine Republik ist, ist unstrit-

tig. Dass sie nationalistisch ist, ist unstrittig – man kann

sich fragen, ob es mehr Nationalisten oder mehr Muslime

in der Türkei gibt. Es sind nicht alle Nationalisten Türken,

es gibt auch kurdische, aber in der Sache sind es Natio-

nalisten. Aber Etatismus, Populismus und Revolutionaris-

mus als weitere Merkmale sind verschwunden. Mit dem

Kemalismus als politischem Programm kann man nichts

mehr anfangen, mit der Symbolfigur sehr wohl.

Lassen Sie uns noch über die türkische Außenpolitik spre-

chen: Wie erklärt sich die aktuelle Wende? Die Gegner-

schaft zu Syriens Diktator Assad war lange Zeit sehr kon-

sequent, beinahe türkische Staatsdoktrin. Nun wendet man

sich Russland zu, dem stärksten Verbündeten des syrischen

Regimes. Warum?

Ganz einfach: Weil es nicht funktioniert hat.

Eine Kapitulation vor der Realität?

Ja, die Außenpolitik Herrn Davutoğlus ist völlig geschei-

tert. Der wichtigste direkte Nachbar der Türkei ist selbst-

verständlich Russland. Und sich mit Russland so anzule-

gen

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– für nichts, mit so vielen negativen Folgen, wie es

hatte – weil man glaubt, man fände Partner in der Umge-

bung, mit denen man sonst Gemeinsamkeiten hätte, das

hat einfach nicht geklappt. Jetzt kann man beobachten,

wie die Struktur der Außenpolitik Davutoğlus zurückge-

baut wird.

13 Am 24.11.2015 schoss ein türkischer Abfangjäger ein russisches Kampf-

flugzeug im türkisch-syrischen Grenzgebiet ab. Der Schritt wurde mit ei-

ner Luftraumverletzung durch die Russen begründet; diese hat es nach

Angaben Moskaus nicht gegeben. Der Vorfall führte zu einer von Wirt-

schaftssanktionen begleiteten diplomatischen Eiszeit zwischen den bei-

den Ländern.

Die Staatschefs der G-20-Staaten bei ihrem Treffen in Hangzhou, erste Reihe von links: Präsident Obama (USA), Bundeskanzlerin Merkel, (Bundesrepublik Deutsch-

land), Präsident Xi Jinping (China), Präsident Erdogan (Türkei), Präsident Putin (Russland), Präsident Hollande (Frankreich), Präsidentin Park Geun-hye (Südkorea)

Foto: picture alliance/dpa