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Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

mehr so attraktiv. Aber jetzt ist die Türkei noch eine rie-

sige Wachstumsmaschine.

Jetzt ist es allerdings völlig unmöglich, die Türkei auf-

zunehmen. Das heißt nicht, dass man die Verhandlungen

abbrechen muss. Das muss man überhaupt nicht, sie führen

ja ohnehin zu nichts mehr. Wenn die Türkei jetzt die Todes-

strafe wieder einführen sollte – wonach es eigentlich nicht

aussieht – das wäre wahrscheinlich schon formal ein Argu-

ment, aber ansonsten: Wie soll man sich mit so einem Land

gegenseitig integrieren? Das Land bewegt sich momentan

noch schneller von den bürgerlichen Freiheiten weg als sol-

che Länder wie Frankreich, wo wir ja auch eine unglaub­

liche Situation haben im Moment: mit Ausnahmezustand,

mit Möglichkeiten, Leute über lange Zeit festzusetzen, zu

Nachverurteilungen, dazu, Freigelassene weiter zu überwa-

chen und so weiter. Das sind keine guten Aussichten, aber

in der Türkei sind sie noch deutlich düsterer.

Im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt wird häufig auch

Ankaras Weigerung, den Genozid an den Armeniern anzu-

erkennen, genannt. Wie stehen Sie zur Bundestags-Reso-

lution vom Juni

11

, die die jungtürkischen Massaker an den

Armeniern unmissverständlich als Völkermord deklariert?

Ich finde, diese Resolution ist nicht weit genug gegan-

gen, insofern als sie zu wenig unterschieden hat zwischen

Tätern und Opfern. Die Überschrift ist relativ deut-

lich, aber danach wird eigentlich so getan, als sei das ein

gemeinsames hartes Schicksal von Türken und Armeni-

ern. Der Erste Weltkrieg ist in Anatolien und in anderen

Teilen des Osmanischen Reichs ganz besonders grässlich

gewesen, auch für Nicht-Armenier. Aber das, was den

Armeniern angetan wurde, war etwas Eigenes und das

bedeutet auch, dass es eigens behandelt werden müsste.

Hier ist die Resolution nicht weit genug gegangen. Sie

hätte außerdem zum Beispiel so etwas ansprechen kön-

nen wie die Durchsetzung der im Vertrag von Lausanne

den Armeniern zugebilligten Rechte,

12

die ja in der Türkei

11 Antrag und Begründung sind auf der Seite des Bundestags im Wortlaut

nachzulesen:

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/086/1808613.pdf

[Stand: 10.10.2016].

12 Im Vertrag von Lausanne vom 23. Juli 1923, mit dem der Erste Weltkrieg

beendet und der Sieg der türkischen Unabhängigkeitsbewegung unter

Mustafa Kemal offiziell anerkannt wurde, wurden die Armenier nicht na-

mentlich erwähnt; die türkische Regierung verpflichtete sich jedoch zum

Schutz aller Bürger unabhängig von Religion, Ethnizität oder Sprache.

Religiöse Gebäude und Schulen der nichtmuslimischen Minderheiten, die

innere Organisation ihrer Gemeinschaften sowie die Verwendung ihrer

Sprachen auch im öffentlichen Raum wurden unter Schutz gestellt. Die

Einhaltung der Regelungen in der Türkei sollten durch den Völkerbund

überwacht werden.

nicht durchweg angewandt werden. Sie hätte von Mög-

lichkeiten der Anerkennung durch Erben der Täter spre-

chen können, aber das alles steht nicht darin. Insofern war

es eine Mindest- und keine Maximalerklärung.

Natürlich ist auch der Zeitpunkt der Resolution ein

bisschen spät. Die Vernichtung der Armenier war bereits

2015 hundert Jahre her. Ob der Zeitpunkt nun diploma-

tisch geschickt war oder nicht – so eine Erklärung ist selbst

in ihrer windelweichsten Fassung wie dieser diplomatisch

immer ein Affront, wenn die andere Seite es nicht aner-

kennen will. Andererseits gehört so eine gewisse Anerken-

nung von historischer Schuld und Verantwortung mög-

licherweise auch zum Bestand der EU. Aber die EU gibt

ihren Wertebestand ohnehin auf, deshalb würde ich das

mal nicht zu hoch hängen. Man muss auch dazu sagen: Es

war nicht das europäische Parlament, das diese Resolution

veröffentlicht hat, es war das deutsche.

Die deutschen Verbündeten haben schließlich auch dazu

beigetragen, dass der Genozid geschehen konnte. Der türki-

sche Gründervater Mustafa Kemal Atatürk war bekannter-

maßen nicht daran beteiligt – an der großen Symbolfigur

der Türkei wurde mit der Resolution also nicht gerüttelt.

Nicht einmal Erdoğan kann es sich leisten, sich in der Öf-

fentlichkeit deutlich von Atatürk zu distanzieren – auch

wenn seine Politik in vielerlei Hinsicht in eine entgegenge-

setzte Richtung zeigt. Wie steht es eigentlich um das kema-

listische Erbe in der Türkei?

Atatürks Politik selbst hat natürlich mit der Politik von

heute relativ wenig zu tun. Man muss bei Atatürks Poli-

tik mindestens drei Phasen unterscheiden: Die Phase des

Unabhängigkeitskriegs, die Phase vor der Weltwirtschafts-

krise 1929 und die Phase danach. Demokratisch war übri-

gens keine dieser Phasen. Was auch nicht erstaunlich ist

und keine große Ausnahme. Insofern ist aber jedes kema-

listische Erbe auch problematisch. Das Problematische am

kemalistischen Erbe in der Türkei heute ist, dass es nicht

hinreichend problematisiert wird. Erdoğan wird nicht so

dumm sein, diese Identifikationsfigur zu demolieren oder

zu demontieren. Aber er macht das Klügste, das er tun kann:

sie ein wenig verblassen zu lassen. Das wird auch weiterge-

hen. ImMoment ist es so, dass der Kemalismus, oder besser

das, was sich in der Türkei noch als Kemalismus oder als

Atatürkismus ausgibt, im Wesentlichen der Laizismus ist,

also Kontrolle der sunnitisch-muslimischen Religion durch

den Staat und Marginalisierung aller anderen Bekenntnisse

und Religionen: Aleviten, die keine eigenen Rechte als reli-

giöse Gemeinschaft haben, Marginalisierung von Christen

und Juden und was es sonst noch so geben mag.