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Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Erdoğans Gebaren dient Kritikern als Argument, die Bei-
trittsverhandlungen der Türkei in die Europäische Union
abbrechen zu wollen. Andere sehen es als historischen Feh-
ler, dass die EU die Türkei nicht längst als Mitglied führt.
Hätte ein früher Erdoğan in die Gemeinschaft gepasst?
Es wäre auch vor zehn Jahren nicht einfach gewesen, die
Türkei in die EU zu aufzunehmen. Es ist nicht so, dass
die Türkei und die Regierung Erdoğan sehr leicht dafür
zu gewinnen gewesen wären, Souveränitätszugeständnisse
zu machen. Die EU beruht aber darauf. Eine Integration
ist immer ein zweiseitiger Prozess. Wenn sich die bun-
desdeutsche Gesellschaft nicht verändert, kann sie keine
syrischen Flüchtlinge integrieren, die sich wiederum auch
verändern müssen. Wenn die EU die Türkei aufnimmt,
muss sich die EU verändern und die Türkei muss sich
auch verändern. Wenn die EU versucht, die Türkei zu
integrieren, ohne sich zu verändern und die Türkei ver-
sucht, Mitglied zu werden, ohne sich zu verändern, dann
gibt es auch keine Fortschritte. Genau das ist das Prob-
lem, genau das ist es, was passiert ist. Das hat zu einem
guten Teil daran gelegen, dass die EU sich nicht getraut
hat. Die EU hat es sich nicht zugetraut, sich tatsächlich
auf die Türkei einzulassen. Was die am Anfang ja ganz gut
voranschreitenden Beitrittsverhandlungen gebremst hat,
war das übliche immer an den Haaren leicht herbeizuzie-
hende Zypern-Problem. Das ist immer eine tolle Ausrede.
Worin liegt denn das eigentliche Problem begründet? Dass
die Türkei ein muslimischer Staat ist?
Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich glaube, dass das
größte Problem ist, dass die Türkei – jetzt immer noch,
aber vor zehn Jahren noch viel mehr – ziemlich arm war.
Es war ein ziemlich großes armes Land, das man hätte
integrieren müssen. Und das auch noch in einem Konsen-
sualprozess, der sehr schwierig ist. Das macht die EU ja
auch so unbeweglich. Und ja, ich denke, dass man Ängste
hat, die auch leicht zu mobilisieren sind: gegenüber Mus-
limen und gegenüber der Größe des Landes. Ich glaube,
das Hauptproblem war, dass man sich dachte, man könne
es nicht zahlen und dabei völlig unterschätzt hat, dass die
Türkei jetzt in diesen Jahrzehnten eine Demographie hat,
die die EU sehr gut hätte gebrauchen können. Insofern
wird ja auch die Attraktivität der Türkei mit jedem Jahr
geringer, weil sie sich dem Ende der demographischen
Entwicklung nähert. 2050 wird sie ein Land mit einer
Bevölkerung sein, die stabil so etwa bei hundert Millio-
nen liegt und eine Altersstruktur aufweist, wie sie heute
schon andere Länder in der EU haben. Dann ist sie nicht
Pro-Erdogan-Demonstration in Köln, 31. Juli 2016
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