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Ein Interview mit Prof. Dr. Christoph K. Neumann

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Ich bin nicht erst seit dem 15. Juli, sondern in einem

langsamen Prozess schon davor an den Punkt gelangt,

dass ich sage, dass Erdoğan ein Diktator ist. Ich bin der

Meinung, dass es hier gerade um die Errichtung einer

Diktatur geht.

Lässt sich diese Entwicklung noch aufhalten?

Ich sehe keine gesellschaftliche Kraft in der Türkei, die

sich so organisieren kann, dass sie zu einem effizienten

Widerstand, einer effizienten Gegenmaßnahme imstande

wäre, die das verhindert. Ich sehe da momentan keine

Aussicht. Das ist entsetzlich. Vor allem deshalb, weil das

Land ja auch ganz andere Dynamiken hatte, die in den

letzten fünf Jahren zerschlagen wurden. In meinen Augen

war das Referendum und die danach gewonnene Wahl

2011

9

der Wendepunkt. An dieser Stelle hat Erdoğan den

Kurs gewechselt. Bis 2011 hat er zwar eine Politik betrie-

ben, mit der ich überhaupt nicht einverstanden war – ich

bin kein Neoliberaler –, aber die zum guten Teil auf Mobi-

lisierung von möglichst großer Unterstützung in verschie-

densten Kreisen der Gesellschaft gesetzt hat und die eben

auch durch die Generierung dieser Unterstützung getra-

gen wurde. Seit 2011, als es ein extrem hohes Niveau sol-

cher Unterstützung gab, hat er das Steuer umgelegt und ist

jetzt ziemlich weit dabei gekommen, dass seine Herrschaft

und die Herrschaft seiner Partei unabhängig vom Rück-

halt durch weite Teile der Gesellschaft und einer Mehrheit

bei den Wahlen ist.

Wahlanalysen zeigen, dass prozentual gesehen überdurch-

schnittlich viele türkische Wähler mit Wohnsitz in Deutsch-

land die AKP wählen. Warum ist Präsident Erdoğan gerade

bei den Deutschtürken so beliebt?

Die AKP hat nicht nur in der Türkei die beste Partei-

organisation, sie hat hier in Deutschland die allerbeste.

Die türkische Regierung ist da ja keineswegs neutral.

Wer in eine

DİTİB

-Moschee

10

geht, hört dort schon das

9 Im September 2010 stimmten die türkischen Wähler im Rahmen eines

Verfassungsreferendums über zahlreiche Änderungen ab. Umstritten

war vor allem die Justizreform, die die Rechte der Regierung und des

Parlaments stärkte, doch 58 Prozent der Wähler stimmten dafür. In der

Parlamentswahl 2011 gewann die AKP nahezu 50 Prozent der Stim-

men, verfehlte aber die von ihr angestrebte Zweidrittelmehrheit im

Parlament, mit der sie die Verfassung in Zukunft alleine hätte ändern

können.

10 Die

Diyanet İşleri Türk İslam Birliği

, zu deutsch „Türkisch-Islamische Uni-

on der Anstalt für Religion e.V.“, ist der bundesweite Dachverband der

türkisch-islamischen Moscheegemeinden in Deutschland. Er untersteht

der Kontrolle der türkisch-staatlichen Religionsbehörde

Diyanet

, die dem

Ministerpräsidentenamt angegliedert ist.

Richtige. Aber die Leute sind ja nicht blöd, man kann

ihnen auch nicht alles erzählen. Ich glaube, dass eine

neue Erfahrung sehr wichtig ist: Türken in Deutschland

waren unter verschiedenen Migrantengruppen eine mit

besonders geringem Prestige und konnten sich diskrimi-

niert fühlen. In den ersten zehn Jahren Erdoğan ist die

Imagination der Türkei, Istanbuls und auch der Türken

bei den Deutschen systematisch positiver geworden.

Türkische Migranten sind in der Vorstellung der bun-

desdeutschen Gesellschaft sozusagen vorbeigezogen an

den faulen Griechen, die nur Bankrott machen, den Ita-

lienern, die kurz vor dem Staatszusammenbruch stehen

und so weiter. Das ist etwas, was lebensweltlich sehr viel

wert ist. Kein Türke hier muss sich vor seiner Regierung

in der Türkei direkt selbst fürchten. Aber er bekommt

von ihr Prestige geliefert. Und Erdoğan liefert ein Iden-

tifizierungsangebot. Das wird in dem Maße, in dem sein

Ansehen hier fällt, auch wieder abnehmen.

Pro-Erdogan-Demonstration in Köln, 31. Juli 2016

Foto: ullstein bild/Fotograf: Ulrich Baumgarten