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Politische Bildung und Integration im digitalen Zeitalter
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Wie das mBook als digitales Medium an das Anliegen von
Integration über die historische Perspektive herangeht,
soll ein Interview mit Marcus Ventzke vom Institut für
digitales Lernen erhellen:
Was macht das mBook neu und innovativ, auch mit Blick
auf Migration?
Marcus Ventzke:
Es gibt bislang keinen Markt für kom-
petenzorientierte und digital-multimediale Angebote, die
gesellschaftliche Diversität angemessen berücksichtigen,
auf empirischer Forschung beruhen und zugleich didak-
tisch konzipiert sind. Das mBook bietet einen hohen Grad
an Differenzierungsmöglichkeiten, Konstruktionstranspa-
renz und Individualisierbarkeit im schulischen Gebrauch.
Wie verstehen Sie den Begriff des „gemeinsamen Lernens“?
Marcus Ventzke:
Die gegenwärtig drängenden Herausfor-
derungen bei den Lehr- und Lernmitteln sind die prakti-
sche Umsetzung der Kompetenzorientierung, der Umgang
mit Inklusion und die Flüchtlingsintegration. In Zukunft
wird das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schü-
lern jeglicher Herkunft und kultureller Prägung zum zent-
ralen Anliegen einer modernen Schulentwicklung, und in
diesem Lernprozess bilden sich dann die unterschiedlichen
kulturellen Prägungen, Sichtweisen, Fähigkeiten und Inte-
ressen von Schülerinnen und Schülern ab. Diese Diversität
wollen wir nutzen und sie zur Grundlage einer demokrati-
schen und chancenbewussten Schul- und Unterrichtskultur
machen. Wir verstehen gemeinsames Lernen als ständige
Inklusionsaufgabe und beziehen die Kompetenzorientie-
rung auf alle Lernenden. Dazu gehören Migranten ebenso
wie einheimische Schülerinnen und Schüler oder Lernen-
de mit besonderem Förderbedarf.
Und wie stellt man sich das im Geschichtsunterricht vor?
Marcus Ventzke:
Alle Schülerinnen und Schüler sollen
gerade anhand von Geschichte erfahren, dass das Zusam-
mentreffen von Menschen unterschiedlicher Prägung und
Herkunft der permanente Realfall menschheitlicher Ent-
wicklung ist. Wir sehen es deshalb als eine Hauptaufgabe
des modernen Geschichtsunterrichts an, auf Prägungen
und Lebenserfahrungen des jeweils anderen zu achten
und über Stereotypen und Vorurteile nachzudenken. Un-
terschiede drücken sich häufig auch in Verhaltensweisen
und Mentalitäten aus, die auf anderen Traditionen und
Werten gründen, und davon werden konkrete Handlun-
gen und Lebensplanungen bestimmt. Wir bieten deshalb
Themen zur Erarbeitung an, die anthropologische Grund-
spannungen der Welt zum Ausdruck bringen und große
Kulturregionen wie „den Osten“ und „den Westen“ sowie
die überzeitliche Mechanismen menschlicher Ein- und
Ausschließung miteinander in Beziehung setzen. Dadurch
werden für alle Unterrichtsbeteiligten historische Erfah-
rungen, Sichtweisen und Prägungen re- und de-konstru-
ierend erkennbar. Geschichte als kulturdeutendes Quer-
schnittfach kann somit in einem kompetenzorientierten
Verständnis orientierungsrelevante Sinnbildung ermögli-
chen, Identitätsbildung fördern und Alteritätserfahrun-
gen zulassen. Das individuelle Fragenstellen als Beginn
des Umgangs mit Geschichte transportiert genau jene
persönlichen Eigenarten, Sichtweisen und Interessen, die
unser aller Leben bestimmen. Diese kulturelle Diversität
und den sozialen Förderbedarf wollen wir aufgreifen und
zum inhaltlichen Schwerpunkt des gemeinsamen Nach-
denkens und Lernens machen.
Welche inhaltlichen Grundlagen werden im mBook voraus-
gesetzt?
Marcus Ventzke:
Auch in der erweiterten Version werden
vergangene Geschehnisse unter Kategorien wie Kultur,
Religion, Politik und Gesellschaft beleuchtet, und zwar in
ihren örtlichen, nationalen oder weltweiten Ausformun-
gen und Folgen. So werden neben den vorgegebenen The-
men des Kernlehrplans auch Themen aus den Herkunfts-
regionen von Migranten integriert, zum Beispiel aus den
sunnitisch geprägten Ländern. Die kategoriale Auswahl
bestimmt so das einzelne Thema, beispielsweise unter dem
Leitmotiv „Das Verhältnis von Orient und Okzident“. Mit
dem (selbst-) reflexiven Ansatz verfolgen wir das Ziel der
Selbstermächtigung von Lernenden mit Migrationshin-
tergrund über die Geschichte ihrer Herkunftsregion, ohne
dabei andere Schülerinnen und Schüler auszuschließen.
Dies scheint uns deshalb wichtig, weil z.B. gegenwärtige
muslimische Migranten in ihren zumeist von illiberalen
Verhältnissen geprägten Herkunftsländern wohl noch nie
einen Umgang mit ihrer eigenen Geschichte kennenge-
lernt haben dürften, der narrativ und multiperspektivisch
ist, von ihren eigenen Fragen ausgeht und Orientierung in
Gegenwart und Zukunft ermöglicht.