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Politische Bildung und Integration im digitalen Zeitalter
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Botschaften, die ins Zeitmaß der Fernsehmacher passen.
Durch die Digitalisierung indes ergibt sich eine neue
Qualität der medialen Politikvermittlung, die wesentlich
durch die Wechselwirkung von Gleichzeitigkeit und Inter-
aktion gekennzeichnet ist. Zum einen wirkt Politik ver-
mehrt ohne Filter und unmittelbar auf ihre Rezipienten.
Die Bürger müssen nicht mehr die Nachrichtensendun-
gen abwarten, in denen ihnen die Tagesaktualität redak-
tionell gefiltert und aufbereitet präsentiert wird, sondern
sind jederzeit und überall per Internet über die weltweiten
Geschehnisse informiert, quasi in Echtzeit. Die enorme
Dynamik der digitalen Prozesse und deren ortsunabhän-
gige und interaktive Wahrnehmung und Verarbeitung
durch beliebig viele Teilnehmer eröffnen einen grenzen-
losen, zeit- und ortsunabhängigen Zugang zu politischen
Themen und Prozessen. Zum anderen reagieren die Rezi-
pienten darauf ihrerseits quasi zeitgleich und direkt in
den Medien und sozialen Netzwerken und äußern sich zu
den politischen Geschehnissen, was wiederum Politiker
und Journalisten auf den Plan ruft, um diese Äußerungen
rasch einordnen, beurteilen und ihrerseits darauf reagieren
zu können, ehe andere ihnen zuvorkommen.
Partizipation per Mausklick?
Standen sich bislang Politik und Medien als Akteure im
Wechselspiel von politischem Handeln und Deutungsho-
heit gegenüber, so kommt mit den digitalen Bürgern und
Internet-Aktivisten eine dritte Kraft ins Spiel. Die politi-
sche Kommunikation und die Politik insgesamt werden
somit unmittelbarer und interaktiver: Aus Konsumenten
politischer Inhalte mit Empfänger-Lizenz werden politi-
sche Kommunikatoren mit Sender-Kompetenz. Mit den
Worten der Medientheorie: Aus Konsumenten und Pro-
duzenten medialer Information werden „Prosumenten“.
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Dabei ist unerheblich, ob deren Beiträge rational und poli-
tisch abgewogen oder emotional und einseitig zugespitzt
sind. Vornehmlich in den sozialen Netzwerken sind keine
elaborierten Abhandlungen zum politischen Geschäft zu
erwarten. Wolfgang Sander fragt daher: „Führt das all-
gemeine Gerede im Internet auch zu mehr tatsächlicher
politischer Partizipation?“
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Die Antwort fällt nicht ein-
deutig aus. Als „geradezu euphorisch“ schätzen manche
Beobachter das politische oder demokratische Potenzial
14 Anja Besand: Mit digitalen Medien lernen – Lernprodukte und Lernum-
gebungen, in: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch politische Bildung, Bonn
2014, S. 476.
15 Wolfgang Sander: Fünfzig Jahre Deutsche Vereinigung für Politische Bil-
dung. Rückblicke und Ausblicke, in: Polis 4/2015, S. 11.
digitaler Medien ein, bezeichnen diese als „Partizipations-
maschinen“
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und sehen darin „ungeheure Chancen für
die politische Bildung“.
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Immerhin bieten sie den poten-
ziellen Nutzern niederschwellige Angebote zur Teilnahme
an oder Meinungsäußerung zu politischen Themen: Par-
tizipation per Mausklick? Die Forschung interessiert sich
bereits dafür, inwieweit politische Aktivität und Teilhabe
in sozialen Medien für die politische Meinungs- und Wil-
lensbildung relevant sind. Dabei scheint es aber, als ob
substanzielle politische Teilhabe mittels digitaler Medien
derzeit nicht generiert würde. Eine einschlägige Stu-
die von Jose Marichal zeigt, dass gerade in Netzwerken
wie Facebook oder Twitter die zentrale Form politischer
Kommunikation vielmehr darin besteht, mit politischen
Äußerungen die eigene Nähe zu bestimmten Meinungs-
positionen und die Zugehörigkeit zu politischen Gruppen
zu demonstrieren, was als eher identitätsbildende Kom-
munikation und symbolische Partizipation gesehen wird.
Dazu zählen auch spontane oder organisierte Reaktio-
nen im Netz oder digitale Attacken wie Flashmobs oder
Shitstorms, die stark wertende oder auch diffamierende
Inhalte publizieren.
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Inwieweit solche expressiven For-
men politischer Teilnahme, von Marichal
„micro-activism“
genannt, über die „kommunikative Selbstdarstellung“
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hinausgehen und im Sinne politischer Meinungsbildung
und substanzieller Partizipation wirksam werden, bleibt
abzuwarten.
Allein die Möglichkeit, sich im Web 2.0 auf digitalen
Kanälen mit Politik beschäftigen zu können, bedeutet nicht
automatisch, dass es auch zahlenmäßig mehr Nutzer tun
und dadurch die politische Partizipation steigen würde, wie
weitere Studien zeigen. Digitale Angebote von gesellschaft-
lichen und politischen Institutionen für Erwachsene und
Jugendliche gibt es zahlreich.
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Daran nehmen imWeb 2.0
indes weniger als fünf Prozent der Jugendlichen regelmäßig
16 Guido Brombach: Ist der Beutelsbacher Konsens noch zu retten?, in:
pb21.de2011,
http://pb21.de/2011/11/ist-der-beutelsbacher-konsens-noch-zu-retten/,
zit. nach Besand (wie Anm. 14), S. 367.
17 Besand (wie Anm. 14), S. 367. Vgl. auch Andreas Kalina: Mediatisierte Ge-
sellschaften. Kommunikation und Sozialwelten im Wandel, in: Akademie-
Report, 02/2016, S. 6.
18 Vgl. Manuela Pietraß: Demokratische Teilhabe durch soziale Medien?
Politische Medienkompetenz im digitalen Zeitalter, in: Ursula Münch/Ar-
min Scherb/Walter Eisenhart/Michael Schröder (Hg.): Politische (Urteils-)
Bildung im 21. Jahrhundert. Herausforderungen, Ziele, Formate, Schwal-
bach/Ts. 2015, S. 255 f.
19 Pietraß (wie Anm. 18), S. 255.
20 Als Beispiele seien genannt: Deutscher Bundestag, politische Stiftungen, Ein-
richtungen der politischen Bildung wie die Bundeszentrale oder Landeszent-
ralen für politische Bildung, Organisationen für bürgerliches Engagement.