2.4 / 8. – 10. Jahrgangsstufe: Positives Denken – Jeder ist seines Glückes Schmied
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fast absolute Gültigkeit gewonnen
haben: Erfolg, Reichtum, Schönheit,
Gesundheit, Glück. ‚Scheitern‘ in
diesen Lebenszielen (mittelmäßi-
ger/kein Erfolg, Armut, Krankheit)
wird individualisiert und stigmati-
siert. Ein Leben mit Sorgen und
Mühen ist nicht mehr, wie noch vor
zwei Generationen, eine Selbstver-
ständlichkeit, sondern wird als we-
nig gelungen verstanden. Gelungen
scheint ein Leben zu sein, wenn
Reichtum, Erfolg, Gesundheit, funk-
tionierendes Familien- und Bezie-
hungsleben sich (nahezu mühelos)
einstellen.
Beim Eingeständnis von Schwächen und
Stoßen an Hindernisse können viele auch
kaum noch Tröstung in der Religion (in der
Hoffnung auf Heil, Geborgenheit und Aner-
kennung in Gott) finden. Wenn Menschen
nicht mehr auf ein jenseitiges Paradies
hoffen, suchen sie dieses im Hier und Jetzt
zu finden (Säkularität). Wenig verwunder-
lich ist, dass in den Publikationen des P
O-
SITIVEN
D
ENKENS
durchaus religiöse For-
meln gebraucht werden (
Glaube
,
Gebets-
therapie
), jedoch beziehen sich diese For-
meln i. d. R. auf innerweltliche Ziele, zu
deren Verwirklichung dann auch der Ein-
zelne ermächtigt und für die er verantwort-
lich gemacht wird. Weltanschauungsbeauf-
tragte sprechen hier von „Selbsterlösung“,
was nichts anderes ist als eine extreme
Form der Individualisierung (s. o.).
Von daher spricht das P
OSITIVE
D
ENKEN
grundlegende Bedürfnisse des Menschen
an:
„das Bedürfnis nach unbeschränk-
ter, materieller Unabhängigkeit und
Freiheit,
das gleichzeitige Bedürfnis nach
Halt und Geborgenheit,
das Bedürfnis nach Bequemlichkeit,
das Bedürfnis, einer Auseinander-
setzung mit sich selbst aus dem
Weg zu gehen,
das Bedürfnis, sich nicht einzuge-
stehen, dass man Hilfe von außen
braucht,
das Bedürfnis nach dem Vergessen
aller Verletzungen, die man erlitten
hat,
das Bedürfnis nach der totalen Ver-
einfachung der Welt,
das Bedürfnis, sich aus der ‚realen’
Welt ausklinken zu können,
das spirituelle Bedürfnis nach Heil
und Erlösung,
das Bedürfnis, sich selbst eine eige-
ne Welt schaffen zu können, also:
das Bedürfnis nach Allmächtigkeit
(Allmachtsansprüche),
Harmonie
und Einssein mit dem Universum,
das Bedürfnis nach dem absoluten
Glück,
das Bedürfnis nach dem Schlaraffen-
land, in dem einem die Tauben gebra-
ten in den Mund fliegen, kurz: nach
dem Paradies“ (Scheich 1997: S. 17).
Gefahren des P
OSITIVEN
D
ENKENS
Psychologen kritisieren das P
OSITIVE
D
EN-
KEN
, weil es – trotz vermeintlich wissen-
schaftlicher Belege und akademischer Titel
– mit Nichtwissen oder Halbwissen ope-
riert. So ist das Unterbewusstsein deutlich
komplexer als es z. B. Joseph Murphy be-
schreibt. Denken ist nur ein Baustein unter
vielen anderen Faktoren, die unsere Psy-
che und unser Handeln bestimmen, wie
Erfahrungen, bewusste und unbewusste
emotionale Vorgänge, Triebe. Von daher
lassen sich Verhaltensmuster und Konditi-
onierungen nur sehr langsam und mühevoll
in therapeutischen Prozessen nachhaltig
verändern, kaum allein durch Selbsthilfe
und Autosuggestion. Negative Gedanken
lassen sich nicht einfach ausblenden, son-
dern müssen – wenn sie nicht zum Leben
ganz selbstverständlich dazu gehören,
sondern vielmehr die Entfaltung des eige-
nen Lebens behindern – ggf. therapeutisch
bearbeitet werden. Schwächen und Gren-
zen werden dagegen im P
OSITIVEN
D
ENKEN
negiert. Auf individuelle Lebenssituationen
und Persönlichkeiten (mit den je eigenen
Stärken, Schwächen und Grenzen) kann in
Ratgeberliteratur oder massenhaften Moti-
vations- und Persönlichkeitsseminaren nicht
eingegangen werden. Und nicht wenige
Trainer suggerieren, dass alle dieselben
Ziele mit denselben Formeln erreichen
könnten. Den Schülerinnen und Schülern
kann diese Komplexität leicht plausibel
gemacht werden, wenn man sie daran er-
innert, wie schwierig die Einübung von nur