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err Professor, Sie beschäftigen

sich seit Jahrzehnten mit psy–

chischen Erkrankungen bei Kin–

dern und Jugendlichen. Was hat sich

auf Ihrem Fachgebiet in dieser Zeit

geändert?

Da hat sich vieles grundlegend geän–

dert. Besonders wichtig scheint mir,

daß die Kinder- und Jugendpsychia–

trie heute als eigenständige Disziplin

allgemein anerkannt wird. Das ist ja

noch gar nicht lange so. Früher

glaubte man, daß es vollkommen ge–

nüge, die Krankheitssymptome der

Erwachsenen einfach auf die Kinder

und Jugendlichen zu übertragen und

sie entsprechend zu behandeln. Aber

Kinder sind nun einmal keine Minia–

turausgaben der Er.,;_,achsenen.

Welche Veränderung würden Sie

noch hervorheben?

Ich bin auch froh darüber, daß die

Zeiten wohl endgültig vorbei sein

dürften, in denen man die psychi–

schen Erkrankungen einfach als Er–

ziehungsschwierigkeiten oder Fehl–

entwicklungen bezeichnete und die

Kinder abgesondert und diszipliniert,

aber nicht behandelt wurden. Heute

gibt es eigene Kliniken für diesen Be–

reich, und fast alle Universitäten in

Deutschland haben inzwischen einen

Lehrstuhl für Kinder- und Jugend–

psychiatrie.

Hat sich in gleicher Weise auch die

Einstellung der breiten Bevölkerung

gewandelt?

Es gibt sicherlich immer noch Eitern,

die den Gedanken, daß ihre Tochter

oder ihr Sohn an einer psychischen

Erkrankung leiden könnte, strikt von

sich weisen und uns deshalb äußerst

skeptisch · gegenüberstehen. Insge–

samt ist es aber viel, viel besser ge–

worden als noch vor dreißig, vierzig

Jahren. ln aller Regel kommen die Ei–

tern jetzt bereitwillig und ohne Vorur–

teile zu uns.

Sind die Kinder heute im Schnitt ei–

gentlich psychisch labiler als vor 20

oder 30 Jahren?

Also, um Ihre Frage klar zu beant–

worten, ich glaube nicht. Die meisten

psychischen Störungen sind sicher

auch früher aufgetreten; sie wurden

aber von den Eitern häufig nicht. als

solche erkannt, oder man schenkte

ihnen weiter keine große Beachtung.

Heute dagegen ist die Sensibilität'für

diese Dinge wesentlich größer ge–

worden. Man zieht viel schneller ei–

nen Arzt zu Rate als früher, und die

Medien informieren regelmäßig über

neue medizinische Erkenntnisse.

Wie bewerten Sie das?

Diese neue Einstellung ist grundsätz–

lich positiv zu bewerten, wenngleich

auch einige negative Begleiterschei–

nungen festzustellen sind. Denn heute

besteht schon die Gefahr, daß man–

che Dinge zu sehr dramatisiert wer–

den. Selbstverständlich gibt es Fälle,

in denen die Eitern unbedingt einen

Arzt einschalten sollten, zum Beispiel,

wenn ein Kind noch mit drei oäer vier

Jahren öfters einnäßt. Aber ich halte

es für bedenklich, wenn relativ harm–

lose Sachen wie das bei Kleinkindern

häufig vorkommende Daumenlut–

schen zur Krankheit hochstilisiert

werden.

.

Welche psychischen Störungen bzvit.

Erkrankungen treten denn bei Kin–

dern am häufigsten auf?

Es ist nicht ganz einfach, eine Aus–

wahl zu treffen; denn das Spektrum

der psychischen Störungen ist breit–

gefächert. Zu den für Kleinkinder ty–

pischen Störungen, die durch psychi–

sche Ursachen bedingt sein können,

aber nicht müssen, gehören u. a.

Spielstörungen, Autismus, Ein- .und

Durchschlafstörungen und Nabelko–

liken. ln den ersten Schuljahren spie–

len auch Lernstörungen und Einord–

nungsprobleme eine große Rolle. Bei

Kindern mit elf, zwölf Jahren, das

heißt mit beginnender Pubertät, be–

obachten wir dann auch bereits Fälle

von Psychosen, Depressionen und

Magersucht.

Ist die Magersucht eine Krankheit,

die auf zeitbedingte Ursachen zu–

rückzuführen ist?

Manchmal könnte man fast zu dieser

Vermutung neigen. Wir haben in den

vergangenen Jahren verstärkt Fälle

von Magersucht zu behandeln;

schlimm ist dabei vor allem, daß in

letzter Zeit bereits neun- und zehn–

jährige Mädchen darunter sind. An–

dererseits liegt die erste Schilderung

des Krankheitsverlaufs, die von ei–

nem englischen Arzt stammt, 300

Jahre zurück. Und auch aus dem 19.

Jahrhundert liegen uns einschlägige

Krankheitsberichte vor.

Welche Ursachen haben denn psy–

chische Störungen?

Diese Frage läßt sich nicht pauschal

,,KINDER

SIND

NUN EINMAL

KEINE

MINIATUR·

AUSGABEN

DER

ERWACHSENEN.''

beantworten. Je nach Kind und psy–

.chischer Störung können ganz ver–

schiedene Ursachen dafür verant–

wortlich sein. Wenn wir für einen Au–

genblick einmal außer acht lassen,

daß solche Störungen auch durch

Schädigungen des Gehirns verur–

sacht werden können, müssen wir -

stark vereinfacht - zwischen gene–

tisch festgelegten und umweltbeding–

ten Faktoren unterscheiden. Man

muß sich nun allerdings davor hüten,

die Ursachen psychischer Erkrankun–

gen entweder nur im Erbgut oder nur

in Umwelteinflüssen zu suchen.

Könnten Sie das näher erläutern?

Es sind in der Ursachenforschung

häufig extreme Meinungen vertreten

worden. Dabei nützt es in dieser Fra–

ge weder, etwa zu behaupten, die

SCHULE

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