chen der Schwierigkeiten klar wird.
Man muß sich z. B. Gedanken dar–
über machen, ob das Kind die Schul–
art besucht, die seiner Begabung und
seinen Interessen entspricht. Aus der
Sicht des Arztes kann ich dazu nur mit
allem Nachdruck sagen: Die seeli–
sche Gesundheit ist wichtiger als das
Erreichen des Abiturs. Daneben gilt
es zu untersuchen, wie es um die Mo–
tivation des Kindes bestellt ist; denn
zur Konzentration gehört auch die
Motivation. Es wird häufig vergessen,
daß Kinder für gute Leistungen ge–
·lobt werden wollen. Bekommt ein
Kind längere Zeit keine Bestätigung,
dann läßt die Motivation spürbar
nach, obwohl das Leistungsvermö–
gen unverändert vorhanden ist.
Was soll man tun, wenn die Proble–
me ernsterer Natur sind?
ln solchen Fällen sollten sich die El–
tern nicht scheuen, einen Facharzt
oder Psychologen aufzusuchen. Auf
keinen Fall aber- um es noch einmal
zu betonen- sollten Eltern versuchen,
von sich aus die Probleme durch ir–
gendwelche Medikamente zu lösen.
Thema ,Schulverweigerung' und
,Schulangst' - was ist darunter zu
verstehen?
Wir unterscheiden drei Formen der
Schulverweigerung: die Schulphobie,
die Schulangst und das Schulschwän–
zen. Die Schulphobie betrifft in erster
Linie jüngere Schulkinder vom 1. bis
zum 4. Schuljahr. Kinder, die darun–
ter leiden, haben einfach Angst vor
jeder Trennung von der Mutter. Sie
wollen unbedingt in Ruf- und Sicht-
weite bleiben. Die Trennungsangst
wird oft durch ein falsches Verhalten
der Mutter - meist unbewußt - unter–
stützt. Das Kind mit Schulangst dage–
gen meidet aus anderen Gründen die
Schulsituation. Hier handelt es sich
um Kinder, die sich z. B. wegen einer
Lernstörung, einer Sprechstörung
oder einer körperlichen Behinderung
überfordert fühlen. Das kann zur Fol–
ge haben, daß diese Kinder unter ex–
tremen Prüfungsängsten leiden und
alles, was sie gelernt haben, im ent–
scheidenden Moment vergessen.
Oder sie fürchten, sich vor den ande–
ren Kindern bloßzustellen und von ih–
nen verspottet zu werden.
Und das Schulschwänzen?
Das Schulschwänzen ist die am häu–
figsten auftretende Form der Schul–
verweigerung. Die Kinder und Ju–
gendlichen bleiben dem Unterricht
ganz bewußt fern und vermeiden da–
durch die Leistungssituation, wobei
sicher sehr oft Angst vor schulischem
Mißerfolg eine bedeutende Rolle
spielt. Eine abgemilderte Form des
Schulschwänzens ist der Lernprotest.
Die Kinder sind zwar in der Klasse
anwesend, nehmen aber in keiner
Weise am Unterricht teil. Sie "privati–
sieren" sozusagen, das heißt, sie
träumen, spielen, lesen heimlich un–
ter dem Tisch oder beobachten kri–
tisch die Lehrer und ihre Eigenheiten.
Wie kann man als Arzt bei den ein–
zelnen Formen der Schulverweige–
rung helfen?
ln jedem Fall zunächst einmal durch
ambulante Maßnahmen, d. h. durch
,,DIE
SEELISCHE
GESUNDHEIT
IST WICHTIGER
ALS DAS
ERREICHEN
DES
ABITURS.
11
eine Einzel- oder Familientherapie.
Aber bei Kindern mit einer schweren,
über lange Zeit andauernden Schul–
phobie, die mit einer permanenten
Ablehnung der Schule verbunden ist,
führt manchmal erst eine Therapie
zum Erfolg, die den Beteiligten am
Anfang schrecklich erscheint. Wir
trennen nämlich die Kinder für einige
Zeit einfach von den Eltern, wobei die
Kontakte auf ein vorher vereinbartes
Minimum beschränkt werden. Das
Kind wird mit der Trennung jedoch
oft erstaunlich schnell fertig. Ihm
wachsen nämlich Kräfte zu, sobald
es spürt, daß es auch alleine aus–
kommt. Wenn die Eltern nach dieser
Trennung das erste Mal zu uns kom–
men, staunen sie nur noch; ganz be–
sonders dann, wenn die Tochter oder
der Sohn nach einigen Minuten sagt:
"Tschüs Mami, ich muß jetzt weiter–
spielen." Auch bei Kindern; die unter
Schulangst leiden, kommt man häufig
ohne eine längere Therapie nicht
aus, in der sich dann speziell ausge–
bildete Lehrkräfte intensiv mit den
einzelnen Kindern beschäftigen. Am
schwierigsten liegt der Fall sicher bei
den Schulschwänzern, weil man de–
nen keinen Ersatz bieten kann. Die
Schule wird Schule bleiben, und ge–
nau die lehnen sie ja ab.
Wie können Eltern, Schule und Ge–
sellschaft dazu beitragen, die psychi–
sche Belastung von Kindern mög–
lichst gering zu halten?
Hier kann man nur an einige Punkte
erinnern, die in diesem Zusammen–
hang immer wieder genannt werden
und allgemein bekannt sind. Da wäre
zum einen die Tatsache, daß man für
Kinder Zeit haben und sie ernst neh–
men sollte; daß man Kinder aber
auch immer als Kinder sehen muß
und von ihnen nicht das Verhalten ei–
nes Erwachsenen erwarten darf. Sehr
wichtig scheint mir noch zu sein, daß
die Erwachsenen sich ihrer Vorbild–
rolle bewußt sind.
Herr Professor, wenn man so lange
wie Sie im Bereich der Psychiatrie ar–
~eitet,
erlebt man da eigentlich noch
Uberraschungen?
Ob Sie es glauben oder nicht, es gibt
jede Woche etwas, von dem ich sa–
gen kann, das habe ich noch nie ge–
sehen oder gehört. Ob es sich dabei
um ein autistisches Kleinkind, eine
schwere Psychose oder die Erstellung
eines wichtigen Gerichtsgutachtens
handelt, immer wieder wird man als
Arzt und Wissenschaftler neu heraus–
gefordert.
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SCHULE
aktuell
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