Table of Contents Table of Contents
Previous Page  9 / 24 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 9 / 24 Next Page
Page Background

chen der Schwierigkeiten klar wird.

Man muß sich z. B. Gedanken dar–

über machen, ob das Kind die Schul–

art besucht, die seiner Begabung und

seinen Interessen entspricht. Aus der

Sicht des Arztes kann ich dazu nur mit

allem Nachdruck sagen: Die seeli–

sche Gesundheit ist wichtiger als das

Erreichen des Abiturs. Daneben gilt

es zu untersuchen, wie es um die Mo–

tivation des Kindes bestellt ist; denn

zur Konzentration gehört auch die

Motivation. Es wird häufig vergessen,

daß Kinder für gute Leistungen ge–

·lobt werden wollen. Bekommt ein

Kind längere Zeit keine Bestätigung,

dann läßt die Motivation spürbar

nach, obwohl das Leistungsvermö–

gen unverändert vorhanden ist.

Was soll man tun, wenn die Proble–

me ernsterer Natur sind?

ln solchen Fällen sollten sich die El–

tern nicht scheuen, einen Facharzt

oder Psychologen aufzusuchen. Auf

keinen Fall aber- um es noch einmal

zu betonen- sollten Eltern versuchen,

von sich aus die Probleme durch ir–

gendwelche Medikamente zu lösen.

Thema ,Schulverweigerung' und

,Schulangst' - was ist darunter zu

verstehen?

Wir unterscheiden drei Formen der

Schulverweigerung: die Schulphobie,

die Schulangst und das Schulschwän–

zen. Die Schulphobie betrifft in erster

Linie jüngere Schulkinder vom 1. bis

zum 4. Schuljahr. Kinder, die darun–

ter leiden, haben einfach Angst vor

jeder Trennung von der Mutter. Sie

wollen unbedingt in Ruf- und Sicht-

weite bleiben. Die Trennungsangst

wird oft durch ein falsches Verhalten

der Mutter - meist unbewußt - unter–

stützt. Das Kind mit Schulangst dage–

gen meidet aus anderen Gründen die

Schulsituation. Hier handelt es sich

um Kinder, die sich z. B. wegen einer

Lernstörung, einer Sprechstörung

oder einer körperlichen Behinderung

überfordert fühlen. Das kann zur Fol–

ge haben, daß diese Kinder unter ex–

tremen Prüfungsängsten leiden und

alles, was sie gelernt haben, im ent–

scheidenden Moment vergessen.

Oder sie fürchten, sich vor den ande–

ren Kindern bloßzustellen und von ih–

nen verspottet zu werden.

Und das Schulschwänzen?

Das Schulschwänzen ist die am häu–

figsten auftretende Form der Schul–

verweigerung. Die Kinder und Ju–

gendlichen bleiben dem Unterricht

ganz bewußt fern und vermeiden da–

durch die Leistungssituation, wobei

sicher sehr oft Angst vor schulischem

Mißerfolg eine bedeutende Rolle

spielt. Eine abgemilderte Form des

Schulschwänzens ist der Lernprotest.

Die Kinder sind zwar in der Klasse

anwesend, nehmen aber in keiner

Weise am Unterricht teil. Sie "privati–

sieren" sozusagen, das heißt, sie

träumen, spielen, lesen heimlich un–

ter dem Tisch oder beobachten kri–

tisch die Lehrer und ihre Eigenheiten.

Wie kann man als Arzt bei den ein–

zelnen Formen der Schulverweige–

rung helfen?

ln jedem Fall zunächst einmal durch

ambulante Maßnahmen, d. h. durch

,,DIE

SEELISCHE

GESUNDHEIT

IST WICHTIGER

ALS DAS

ERREICHEN

DES

ABITURS.

11

eine Einzel- oder Familientherapie.

Aber bei Kindern mit einer schweren,

über lange Zeit andauernden Schul–

phobie, die mit einer permanenten

Ablehnung der Schule verbunden ist,

führt manchmal erst eine Therapie

zum Erfolg, die den Beteiligten am

Anfang schrecklich erscheint. Wir

trennen nämlich die Kinder für einige

Zeit einfach von den Eltern, wobei die

Kontakte auf ein vorher vereinbartes

Minimum beschränkt werden. Das

Kind wird mit der Trennung jedoch

oft erstaunlich schnell fertig. Ihm

wachsen nämlich Kräfte zu, sobald

es spürt, daß es auch alleine aus–

kommt. Wenn die Eltern nach dieser

Trennung das erste Mal zu uns kom–

men, staunen sie nur noch; ganz be–

sonders dann, wenn die Tochter oder

der Sohn nach einigen Minuten sagt:

"Tschüs Mami, ich muß jetzt weiter–

spielen." Auch bei Kindern; die unter

Schulangst leiden, kommt man häufig

ohne eine längere Therapie nicht

aus, in der sich dann speziell ausge–

bildete Lehrkräfte intensiv mit den

einzelnen Kindern beschäftigen. Am

schwierigsten liegt der Fall sicher bei

den Schulschwänzern, weil man de–

nen keinen Ersatz bieten kann. Die

Schule wird Schule bleiben, und ge–

nau die lehnen sie ja ab.

Wie können Eltern, Schule und Ge–

sellschaft dazu beitragen, die psychi–

sche Belastung von Kindern mög–

lichst gering zu halten?

Hier kann man nur an einige Punkte

erinnern, die in diesem Zusammen–

hang immer wieder genannt werden

und allgemein bekannt sind. Da wäre

zum einen die Tatsache, daß man für

Kinder Zeit haben und sie ernst neh–

men sollte; daß man Kinder aber

auch immer als Kinder sehen muß

und von ihnen nicht das Verhalten ei–

nes Erwachsenen erwarten darf. Sehr

wichtig scheint mir noch zu sein, daß

die Erwachsenen sich ihrer Vorbild–

rolle bewußt sind.

Herr Professor, wenn man so lange

wie Sie im Bereich der Psychiatrie ar–

~eitet,

erlebt man da eigentlich noch

Uberraschungen?

Ob Sie es glauben oder nicht, es gibt

jede Woche etwas, von dem ich sa–

gen kann, das habe ich noch nie ge–

sehen oder gehört. Ob es sich dabei

um ein autistisches Kleinkind, eine

schwere Psychose oder die Erstellung

eines wichtigen Gerichtsgutachtens

handelt, immer wieder wird man als

Arzt und Wissenschaftler neu heraus–

gefordert.

0

SCHULE

aktuell

9