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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16

Hitlers

Mein Kampf

– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit

Materialien

Die Diskussion über

Mein Kampf

– nach dem Auslaufen der urheberrechtlichen

Schutzfrist

Philipp Blom: Copyright auf ein Tabu (Cicero, 06.12.2012)

Die Neuauflage von „Mein Kampf“ ist notwendig. Im Internet ist der Originaltext nur wenige Klicks entfernt,

und über Antiquariate lässt sich auch ein Original problemlos bestellen. Das Verbot ist also bereits jetzt porös

und allenfalls symbolisch. Diese Symbolwirkung aber ist kontraproduktiv. Mehr noch: Hitlers Reden, Tisch-

gespräche und andere Dokumente über sein Denken sind ebenso frei zugänglich wie die Reden von Himmler

und Goebbels und dessen Tagebücher, ganz zu schweigen von einer Flut von NS-Propagandaschriften, Pam-

phleten, Zeitungen und anderen Publikationen. Fast alle wichtigen Reden sind im Original auf „Youtube“ zu

sehen. Nur die Gründungsschrift der „Bewegung“ bleibt weiterhin im Giftschrank – als würde etwas Beson-

deres in ihr stehen, etwas Unerhörtes, was jede Leserin und jeden Leser sofort in seinen Bann ziehen muss.

Es ist sicherlich besser, dieses wirre, hassdurchtränkte, von der jämmerlichen Rassenmystik des Fin de siècle

durchzogene Machwerk bei Tageslicht zu sezieren und ihm seine scheinbare dämonische Macht zu nehmen.

Ein Verbot spricht „Mein Kampf“ einen zu hohen Wert zu und schafft zusätzlich eine falsche Kausalität:

Weder dieses Buch noch sein Autor waren die Ursache der nationalsozialistischen Verbrechen – sie waren

nur wichtige Faktoren darin. Hier liegt eine Gefahr, die sich das deutsche Geschichtsverständnis lange und

oft auch heuchlerisch zunutze gemacht hat: Es ist augenscheinlich verlockend, das Phänomen Hitler für alles

verantwortlich zu machen – ein Phänomen, mit dem man heute noch periodisch neu aufgegossene „Enthül-

lungsartikel“, Bücher und Dokumentarserien verkaufen kann, die sich mit seinen Frauen, Schäferhunden, sei-

ner Liebe zu Wagner oder anderen Aspekten seines Privatlebens beschäftigen und nichts, aber auch gar nichts

auslassen; was mit Hitler zusammenhängt, das läuft noch immer. So entsteht eine mythologische Aufladung

seiner Person und führt zur praktischen Simplifizierung: Die Nazis waren’s, Hitlers dämonisches Genie, sein

stechender Blick. Hitler wird so als die zentrale Ursache der „nationalsozialistischen Schreckensherrschaft“

identifiziert: hier die Nazis und der „Führer“ – da die Deutschen, die von ihnen tyrannisiert wurden und so

fast unbemerkt in die Opferrolle schlüpfen können. […]

Die Frage, ob sich das Andenken an die Grauen des Völkermords der Deutschen je „normalisieren“ darf, ist

müßig – es ist längst passiert. Diese Normalisierung ist keine moralische Frage, sondern eine biologische und

in gewisser Hinsicht, soweit sie Migranten aus anderen historischen Traditionen betrifft, die Deutsche gewor-

den sind, eine soziale und demografische. Die Erinnerung als leeres Ritual kann nur Entfremdung schaffen,

heruntergebetete Betroffenheit (eine sehr deutsche Tugend) wird zum Schutzschild gegen die Einsicht, dass

uns das Erbe des Krieges und des Mordens dazu motivieren muss, uns heute für Menschenrechte und demo-

kratische Freiheiten einzusetzen, wo immer sie bedroht werden.

[…] Auch wenn

„Mein Kampf“

an jedem Kiosk zu haben ist, wird es die Bundesrepublik nicht gefährden.

Auch wenn es nicht mehr lebendige Erinnerung ist, hat das Trauma des Nationalsozialismus und der eigenen

Schuld die deutsche Gesellschaft nachhaltig und positiv geformt.

Quelle:

http://www.cicero.de/salon/copyright-auf-ein-tabu/52776

[Stand: 10.12.2016]

Kurzbiografie:

Philipp Blom wurde 1970 in Hamburg geboren und ist Schriftsteller und Publizist. Zu seinen bekannten Schriften

zählen u.a.: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2011; Die zerrissenen Jahre 1919–1938, Mün-

chen 2016.