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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16

Hitlers

Mein Kampf

– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit

Materialien

Serdar Somuncu: Erfahrungen mit

Mein Kampf

Mittlerweile lese ich

Mein Kampf

zum zweiten, dritten und vierten Mal. Immer wieder entdecke ich neue Kapi-

tel, die nicht durch das, wovon sie handeln, sondern durch die Art, wie erzählt wird, einen tiefen Einblick in

die unbekannten Seiten Hitlers geben. Ganz normal ist der Kerl. Ganz normal bescheuert und bei weitem nicht

so besonders, so unantastbar, wie ihn Freund und Feind gern sehen würden. Er ist nicht doof, aber auch nicht

allzu intelligent. Glück hat er gehabt, dass er so weit gekommen ist, und eine Menge Zufall hat dabei eine Rolle

gespielt. Ich komme zu folgendem Schluss: Wenn ich so viel Macht gehabt hätte, wer weiß, ob ich nicht auch das

Gleiche getan hätte. Wer träumt nicht davon, seine Feinde aus dem Weg zu räumen? Wer träumt nicht davon,

Herrscher der Welt zu sein, Bilder mit seinem Porträt an jeder Straßenecke zu sehen? […] Hitler ist also ein

gesellschaftliches Phänomen. Das Grauen bei dem Thema Hitler ist die Frage, wie er so weit kommen konnte.

Und wozu soll ich dann noch dieses Buch lesen? Ganz einfach. Um den Mythos aufzuheben. Transparenz.

Durchsichtigkeit. Die Fragestellung ergibt sich vielleicht von selbst. Dachte ich, denke ich. Ich weiß es nicht.

Den Versuch ist es wert. […]

Ich versuche, einen Überblick über den Aufbau von

Mein Kampf

zu geben, soweit das möglich ist, und

erzähle zwischen den einzelnen Kapiteln einleitend von meinen Erfahrungen auf den bisherigen Stati-

onen meiner Reise. Dabei kommt es auch immer wieder zu lustigen Erzählungen, die ich bewusst nicht

zurückhalte. Manche Zuschauer sind deswegen irritiert, weil sie vielleicht erwarten, dass wir angetreten sind,

um die ewig gleichen Rituale von Betroffenheitsgehabe zu zelebrieren, die man im Zusammenhang mit die-

ser Thematik einzuhalten hat. Aber warum darf man über Hitler nicht lachen? Ist er ein Heiliger? Sind

seine Worte so grausam, dass sie mit paralysierter Zurückhaltung und ernsthafter Empfindlichkeit honoriert

werden müssten? Damit muss Schluss sein. Der Sockel, auf dem Hitler immer noch steht, dieser Sockel wird

nicht dadurch brüchig, dass man ihn noch ständig zementiert, indem man seine Aussagen mehr noch als seine

Taten ernst nimmt. Hitler allein ist nur eine Witzfigur. Die Leute, die ihn gewählt haben, die Leute, die ihm

zugejubelt haben, haben ihm die Macht zur Durchführung seiner Pläne gegeben und sind daher an seinen

Taten beteiligt. […]

Ich habe gelernt, dass in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, in anderer Art und Weise Gesprächs-

bedarf besteht, als man das bisher glaubte. Die Menschen, insbesondere die jungen unter ihnen, wollen neue

Antworten auf alte Fragen, sie wollen keine Belehrungen, keine Stigmatisierungen, kein Betroffenheitsdogma,

keine plumpen Anschuldigungen und kein Mitleid. Gerade in diesem Gesprächsbedarf sehe ich die größte

Chance. Deutschland als ein Ursprungs- und Heimatland faschistischer Ideen kann mehr bewegen als nur

sich selbst, vor allem aber kann es seine Ansprüche konkretisieren, nicht nur wirtschaftlich als Weltmacht zu

gelten, sondern auf humanistischer Ebene eine solche zu sein. In diesem Land, in dem so viele Intellektuelle,

Wirtschaftswissenschaftler, Industriemagnaten, Künstler und Bildungsbürger mehr tun könnten, als für ihr

persönliches Wohlergehen zu sorgen, ist es nach wie vor schwierig, teilen zu wollen – ob es Verantwortung,

materielles Vermögen oder geistige Auseinandersetzung betrifft. Mit heruntergezogenen Rollläden gilt es,

die anderen zu beobachten, sich bloß nicht in etwas hineinziehen zu lassen und seine aufrichtige Meinung

nur im Zweifelsfalle zu sagen, und sei diese noch so extrem in ihrer Verborgenheit. Gerade diese Meinung

aber ist entscheidend, wenn es um die tatsächliche Bestandsaufnahme unserer geistigen Verfassung geht. Der

deutsche Busfahrer, der nur im Konflikt einem Ausländer die Rückkehr in seine Heimat anbietet, ist er kein

Teilzeitfaschist? Ist er nicht die Grundlage für ein Geschwür, welches genau dann größer werden kann, wenn

die kleinen Konflikte der Straße zu den eigentlichen Konflikten der bundesrepublikanischen Politik werden

könnten? So merken wir jedes Mal, wenn die Republik durch Skandale oder Ereignisse erschüttert wird, dass

extremes Gedankengut anwächst und der Wille nach Vergeltung sich immer an den Unschuldigen, den Klei-

nen, meistens den Fremden zu entladen droht. Spricht aber die partielle nationale Identität, die wiederkehrt,

wenn sie eigentlich am stärksten hinterfragt wird, nicht dafür, dass unser nationales Verständnis vollkommen

antiquiert ist, muss es nicht von Grund auf erneuert werden, sodass Deutsche nicht mehr Deutsche sind,