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Hitlers

Mein Kampf

– Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit

52

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16

Mein Kampf

in der

Geschichtskultur

Die Geschichte von

Mein Kampf

war 1945 nicht zu Ende.

Vielmehr zeigt sich hier der Aufarbeitungskontext, der

sich vom Rezeptionskontext der Jahre vor Kriegsende

insofern unterscheidet, als das Publikationsverbot und

die Ächtung des Nationalsozialismus grundlegend neue

Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit Hitlers

Hetzschrift schufen. Der Umgang mit

Mein Kampf

ist

ein Aspekt des Umgangs mit dem Nationalsozialismus

insgesamt und damit ein Teil der Geschichtskultur der

Bundesrepublik Deutschland. In ihr manifestiert sich das

Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft, kommen also

die Vorstellungen von und die Einstellungen zur Vergan-

genheit in verschiedensten Formen zum Ausdruck – von

der Geschichtswissenschaft bis hin zum Geschichtsunter-

richt, von Gedenkstätten bis hin zu einschlägigen Reden,

von historischen Romanen und historischen Spielfilmen

u.v.m. Die einzelnen Produkte können sich den strengen

Anspruch wissenschaftlicher Rationalität unterwerfen

oder die Lizenz freier künstlerischer Gestaltung beanspru-

chen.

62

Im Rahmen der umfassenden Auseinandersetzung

mit der Zeit des Nationalsozialismus spielt

Mein Kampf

gegenüber der juristischen Ahndung von NS-Verbrechen

und der Entschädigung der Opfer eine untergeordnete

Rolle. Allerdings zeigen die im Folgenden vorgestellten

Beispiele, dass Hitlers Buch nicht erst seit dem anstehen-

den Auslaufen des Urheberschutzes öffentliche Aufmerk-

samkeit genoss und im Hintergrund präsent war.

Bemerkenswert ist dabei, dass nationalsozialistische

Quellen und sogar andere Schriften Hitlers weniger Auf-

sehen erregen. So konnte das Institut für Zeitgeschichte

seine mehrbändige Edition „Hitler. Reden, Schriften,

Anordnungen“ publizieren, ohne dass die breite Öffent-

lichkeit davon Kenntnis, geschweige denn daran Anstoß

genommen hätte – obwohl der ideologische Gehalt in

diesen Dokumenten nicht minder radikal ist.

63

Dass

Mein

Kampf

eine solche Aufmerksamkeit erfährt, lässt sich dar-

aus erklären, dass es als „Herrschaftssymbol“ inszeniert

und als „Herrschaftsinstrument“ genutzt wurde und so

als Inbegriff der NS-Ideologie und der NS-Propaganda

62 Einführend: Baumgärtner (wie Anm. 20), S. 31–46.

63 Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hg.

v. Institut für Zeitgeschichte, 13 Bde., München 1992–2003.

in Erinnerung blieb. Diese pseudoreligiöse Aufladung zur

„Bibel der Bewegung“ lässt die Gefahr ideologischer Infi-

zierung nach wie vor als groß erscheinen und provoziert

Auseinandersetzungen verschiedenster Art.

Neben der Verfügbarkeit des Textes lassen sich, wobei

es selbstredend fließende Übergänge gibt, verschiedene

Formen des Umgangs unterscheiden: solche, die den

Anspruch sachlicher Information erheben, mithin den

Postulaten wissenschaftlicher Rationalität verpflichtet

sind, dann solche, die zur politischen Meinungsbildung

beitragen wollen, also den Regeln des öffentlichen Dis-

kurses folgen, und solche, die für sich die Lizenz künstle-

rischer Freiheit beanspruchen, somit bewusst fiktive und

imaginative Elemente verwenden.

Die Verfügbarkeit des Textes

64

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des National-

sozialismus ging es im Zuge der Entnazifizierung um die

Verbannung des Buches aus der Öffentlichkeit, die nach

1945 mit Hilfe des Urheberrechts geschah. Der Freistaat

Bayern, der in die Rechte von Autor und Verlag eintrat, ver-

hinderte mit juristischen Mitteln eine erneute Publikation

nach Kriegsende. Gleichwohl ließ sich das Buch nicht tot-

schweigen. Und spätestens mit dem Aufkommen des Inter-

nets verlor diese restriktive Politik ihre Wirksamkeit, da der

vollständige Text problemlos zu finden und zu lesen war.

Bestimmte Seiten widmen sich sogar dem Kauf und Ver-

64 Vgl. hierzu Marion Neiss: „Mein Kampf“ nach 1945. Verbreitung und Zu-

gänglichkeit, in: ZfG 60 (2012), S. 907–914.

Schauspieler Helmut Qualtinger liest aus

„Mein Kampf“,

Hamburg 1975.

Foto: ullsteinbild/Fotograf: Wolfgang Kunz