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„Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

mochte man uns nicht. Die Russen mochten niemand.

Auch die osteuropäischen Zwangsarbeiter, die da lebten,

hassten uns. Meine Eltern und vor allem meine Mutter

waren immer auf der falschen Seite.

LZ:

War niemand in der Lage zu unterscheiden zwischen

Regimeanhängern und „normalen“ Menschen?

Natascha Wodin:

Heute sind wir aufgeklärt und sehen

die Dinge differenzierter. Aber damals war es finster; viele

Menschen waren innerlich zerbrochen und zerstört von

der Verschleppung und der Zwangsarbeit. Da war einfach

nur irrationaler Hass.

LZ:

In einer Szene Ihres Buchs beschreiben Sie, wie Sie Ihre

Mutter von einem deutschen Mädchen außerhalb des Hofs

wegreißt. Wie haben Sie sich die Handlung Ihrer Mutter

erklärt?

Natascha Wodin:

Das ist relativ einfach– wir lebten ja

nach meiner Erinnerung bei einem Fabrikbesitzer, waren

fünf Jahre von ihm geduldet auf dem Fabrikhof. Wir lebten

versteckt – illegal und für alle die ganz Fremden und Aus-

sätzigen. Eigentlich hätten wir in ein Lager für

Displaced

Persons

gehört; meine Eltern wollten da aber absolut nicht

hin und haben das auch irgendwie geschafft. Der Fabrik-

besitzer war wohl ein human eingestellter Deutscher - er

machte sich mit dieser Duldung eigentlich strafbar. In der

von Ihnen genannten Situation lief ich als Kind auf das

Nachbargrundstück. Meine Mutter wollte mich schützen,

wahrscheinlich wollte sie verhindern, dass wir entdeckt

werden und doch in das Valka-Lager in Nürnberg kom-

men. Das war in unseren Augen die verrufenste Gegend

der Welt. Da lebten zusammengewürfelt alle Zwangsar-

beiter aus allen osteuropäischen Ländern; die Leute waren

alle fix und fertig. Alle hatten sie – wie man es heute nen-

nen würde – posttraumatische Belastungsstörungen. Man

bekam im Monat 12,50 Mark für den Lebensunterhalt.

Davon konnte man nicht leben, und deswegen ging man

Schwarzarbeiten nach. Es wurde gestohlen, geschlagen,

sogar gemordet. Da ging es wüst zu, weil Tausende Men-

schen auf engstem Raum zusammengepfercht waren. In

einer Baracke lebten 30 – 50 Menschen. Man hatte keine

Privatsphäre. Meine Mutter hatte panische Angst davor,

in dieses Lager zu kommen, aber es blieb ihr schließlich

doch nicht erspart.

LZ: Bei den Repatriierungen ist es zu beispiellosen Szenen

und Suizidwe

llen gekommen, weil diesem Aufruf sehr viele

aus Angst um ihr Leben nicht nachkommen wollten.

Natascha Wodin:

Es gab solche, die wollten sehr gerne

zurück, die meisten haben das später bereut. Aber man

Drei Geschwister: Natascha Wodins Mutter (Mitte) mit Bruder Sergej und Schwester Lidia, ca. 1928

Fotos: privat

Natascha Wodin mit Vater und Schwester

am Grab der Mutter, ca. 1957