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„Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

LZ:

Was wurde denn in Ihrer Familie erzählt?

Natascha Wodin:

Da wurde darüber nicht gesprochen.

Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen.

Meine Familie, meine Eltern haben über etwas Anderes

geschwiegen als die Deutschen. Ich war irgendwie in diese

zwei Schweigen eingemauert und habe nichts gewusst und

verstanden.

LZ:

Haben die Demokratisierungs- und Aufklärungskam-

pagnen der – in Ihrem Fall amerikanischen – Besatzungs-

macht überhaupt nicht gewirkt?

Natascha Wodin:

Was glauben Sie, in einer Kleinstadt in

Franken nach dem Krieg, in einer Zeit, in der jeden Tag

vor den Russen gewarnt wurde, noch vor kurzem wur-

den sie als bösartige barbarische Wesen mit Hörnern und

Schwänzen dargestellt. Die Russen waren der Weltfeind,

gegen die Angst vor ihnen war kein Kraut gewachsen, das

war eine regelrechte Phobie, der Mythos vom Bösen. Ro-

nald Reagan hat Russland ja noch im Jahr 1983 als das

„Reich des Bösen“ bezeichnet....

LZ: Wenn man Ihre Familie betrachtet, sieht man eine

sehr komplexe Geschichte, die in der Biographie Ihrer

Mutter mit dieser doppelten Anfeindung durch Kommu-

nisten und Nationalsozialisten ihre tragische Seite zeigt.

Natascha Wodin:

Die Anfeindungen gab es auch schon

früher! Mein Großvater hatte sich bereits in der Zarenzeit

den Bolschewiki angeschlossen und wurde deshalb für 20

Jahre nach Sibirien verbannt. Später wurde er dann vom

Sowjetregime verfolgt, für das er ja gekämpft und sein Le-

ben eingesetzt hatte. Und natürlich war die ganze Familie

in Lebensgefahr. Ehemalige Aristokraten und Kapitalisten

waren Volksfeinde und gehörten auf den Müll der Ge-

schichte.

LZ:

Ihre Mutter wurde gleichsam zwischen den Mühlsteinen

der Geschichte zerrieben.

Natascha Wodin:

Ja, meine Mutter hat überhaupt nichts

anderes erlebt als Gewalt. Aber ich denke, das ist im letz-

ten Jahrhundert nichts Besonderes gewesen, das war das

Schicksal von Millionen. Und wenn man heute auf die

Welt blickt – Gewalt an allen Ecken und Enden.

LZ:

Für Ihre Mutter gab es überhaupt keinen Ausweg. Auf

gar keinen Fall konnte sie nach Kriegsende in die Sowjet-

union zurückgehen…

Natascha Wodin:

Da hätte man sie umgebracht. Das hat

sie dann lieber selber gemacht. Ich kann das heute nach-

vollziehen. Sie hatte keinen Weg. Im Ghetto in der frän-

kischen Kleinstadt waren wir die einzigen Russen. Dort

Cousinen der Mutter und ihr Bruder Sergej am Dnjepr, ca. 1927

Fotos: privat

Lidia, die Schwester der Mutter, ca. 1935