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„Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen“
Einsichten und Perspektiven 3 | 17
Die Schriftstellerin Natascha Wodin (bekannt unter anderem durch ihren
Roman „Nachtgeschwister“) rekonstruiert in ihrer dokumentarischen Familien-
biographie „Sie kam aus Mariupol“ die tragische Biographie ihrer Mutter und
deren russisch-ukrainischer Familie. Schon in der Ukraine aufgrund ihrer groß-
bürgerlichen Herkunft von den Sowjets beraubt und verfolgt, werden die Eltern
in Deutschland als Zwangsarbeiter in der nationalsozialistischen Rüstungs-
industrie jahrelang ausgebeutet. Nach dem Krieg gelingt es der Familie, der
Repatriierung in die Sowjetunion zu entgehen; sie ist aber gezwungen, sich
in größtem materiellem Elend in verschiedenen Lagern für (kurs.) displaced
persons durchzuschlagen. Entwurzelt und gebrochen durch die Aussichtslosig-
keit ihrer Situation, nimmt sich Wodins Mutter das Leben.
Natascha Wodins lakonische Erzählung wirft ein Schlag-
licht auf ein Schicksal, das Millionen von deportierten
Menschen im 20. Jahrhundert erlebt haben. Sie erzählt
von den Diskriminierungen, denen DPs im Nachkriegs-
deutschland ausgesetzt waren, von dem Umgang mit dem
schweren Schicksal ihrer Eltern und dem langsamen Weg
in die Mitte der Gesellschaft.
Für „Sie kam aus Mariupol“ wurde Natascha Wodin
2017 der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen.
LZ:
Was bedeutet es für Sie, dass die deutsche Gesellschaft,
die Sie zu Beginn Ihres Lebens so fürchterlich behandelt
und diskriminiert hat, Sie jetzt so umarmt und preist?
Natascha Wodin:
Ich muss sagen, dieses Gefühl, verach-
tet und abgelehnt zu werden, ist schon sehr lange vergan-
gen. Ich habe ja auch schon vor dem Buchpreis in diesem
Jahr viele Auszeichnungen bekommen und das Leben hier
ist für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die
Zeit meiner Jugend ist heute schon für mich sehr ver-
schwommen. Ich bin fast 72 – und die Diskriminierun-
gen haben in dem Moment aufgehört, als ich mit neun-
zehn Jahren einen deutschen Mann geheiratet habe und
mit ihm nach München gezogen bin, wo mich niemand
kannte. Ich hatte jetzt einen deutschen Nachnamen und
die deutsche Staatsbürgerschaft. Das hat mein Leben ent-
scheidend verändert.
München war wirklich mein Aufbruch. Als ich
1970 – stolz, Deutsche und Münchnerin zu sein, und auch
mein Mann wollte das so gerne - mit Dirndl und Haarteil
zur Sprachenschule gegangen bin, haben sich alle kaputt
gelacht, waren aber trotzdem sehr nett zu mir. Ich bin un-
ter die „Achtundsechziger“, die Studenten, geraten und die
haben mich erstmal über vieles aufgeklärt. Von ihnen habe
ich zum ersten Mal gehört, dass nicht die Russen, sondern
die Deutschen den Krieg begonnen hatten. Das war uns in
der Schule von den Lehrern anders erklärt worden – auch
immer ein bisschen auf mich als „die Russin“ gemünzt.
1983
Foto: sz photo/Fotografin: Brigitte Friedrich