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„Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

funktioniert ja bis heute nicht. Viele Menschen im Osten

fühlen sich immer noch überfahren, allein gelassen. Man

muss ihnen Zeit geben, in das neue System hineinzuwach-

sen, die ganz andere Lebensform für sich anzunehmen,

weil eine andere nun einmal nicht mehr zur Verfügung

steht. Man müsste viel mehr miteinander sprechen, statt-

dessen ziehen sich viele ins Altbekannte und Vertraute

zurück. Aber das gilt natürlich nur für die Menschen, die

noch in der DDR aufgewachsen sind. Die neuen Gene-

rationen können sich zum größten Teil das Leben in der

DDR gar nicht mehr vorstellen.

LZ: Verstehen Sie das Argument mit der angeblichen

„Nicht-Anerkennung der „Lebensleistung““?

Natascha Wodin:

Ich frage mich oft, wie es wohl umge-

kehrt gewesen wäre, wenn wir eines Tages im Osten auf-

gewacht wären und man uns gesagt hätte, dass wir jetzt

in der DDR leben müssen. Und alles vergessen sollen, was

vorher war, ein wertloses Leben, ein Leben, das eigentlich

gar nicht zählt. So hat man das ja den Menschen tatsäch-

lich oft gesagt.

LZ:

Hat man nicht eher gesagt: Ihr musstet in einem dikta-

torischen System leben, das schlecht war, nicht: „Ihr wart

schlecht?“, sondern: „Ihr wurdet nach der Nazi-Diktatur

Opfer eines neuen Regimes“?

Natascha Wodin:

Das sehen viele Ostdeutsche nicht so.

Sie trauern ihrer wirtschaftlichen Sicherheit nach. In der

DDR hat man nicht grade luxuriös gelebt, aber man war

von der Wiege bis zum Grab versorgt. Die materielle Si-

cherheit ist ja nicht zu unterschätzen, nach der strebt je-

der Mensch, und bei weitem nicht jeder erreicht sie, auch

nicht in unserem heutigen reichen Deutschland. Die

meisten Menschen lebten in der DDR doch einen ganz

normalen Alltag, sie waren nicht ständig mit dem System

beschäftigt. Gleichzeitig wussten sie natürlich, dass die

Westdeutschen tolle Autos fuhren, reisen durften, jedes

Buch lesen konnten, das sie lesen wollten. Viele Miss-

verständnisse entstehen, wenn man sich nicht bewusst

macht, von welchem Standpunkt aus ein anderer Mensch

spricht.

Ich hatte mit einigen Ostdeutschen große und groteske

Missverständnisse, und manche Beziehungen mussten

beendet werden. Wir fanden einfach keine gemeinsame

Sprache. Es gab viel gegenseitige Anklage.

LZ:

Manchmal auch in Form eines fortgesetzten Täter-

Opfer-Schemas, wie es z.B. bei Christa Wolf oft anklingt?

Natascha Wodin:

Christa Wolf hat den Westen abge-

lehnt. Diese Haltung verstehe ich. Sie wollte nicht im Ka-

pitalismus leben. Man hat sie gezwungen. Sie hätte gerne

die DDR verändert.

LZ:

Aber dieses Land als das „menschlichere“ darzustellen,

ist trotzdem problematisch. Ein Land, in dem es den „uner-

warteten Nahschuss“ gab.

NataschaWodin:

Ich glaube nicht, dass jemand den Staat

der DDR als den menschlicheren darstellt. Aber das Zu-

sammenleben der Menschen scheint in vielem angstfreier,

offener gewesen zu sein als bei uns. Eine Nachbarin, eine

ostdeutsche Pfarrerstochter, hat mir neulich gesagt, sie sei

so dankbar für die Jahre, die sie ohne Geld leben durfte.

Bei uns hingegen entscheidet das Geld ja über fast alles,

was ich sehr traurig finde.

LZ:

Wie sehen Sie die heutige Entwicklung der Ost-West-

Kontakte, etwa zwischen „dem“ Westen und Russland?

Natascha Wodin:

Da klafft heute leider ein großer Ab-

grund, es herrscht eigentlich wieder Kalter Krieg. Leider

wissen die Russen nicht viel von uns, und wir wissen

nicht viel von ihnen. Niemand scheint sich die Mühe zu

machen, die andere Seite zu verstehen, es wird meistens

nur mit Klischees gearbeitet. Man muss verstehen, dass es

in Russland keine demokratischen Traditionen gibt, die

Menschen wissen nicht, was Demokratie ist. Seit dem Za-

rismus hat sich dort eigentlich nicht viel verändert. Einer-

seits herrscht Anarchie, andererseits erwarten die Men-

schen wie in alten Zeiten die Rettung von oben. Putin ist

der neue Zar, die neue Ikone, zu der die Menschen beten.

LZ:

Ist das nicht die einzige Art, mit der dieses Land regiert

werden kann?

Natascha Wodin:

Man müsste eine Möglichkeit finden,

die Menschen l a n g s a m „von der Leine zu lassen“,

ihnen nach und nach mehr Eigenverantwortung zu über-

tragen. Die Revolution war ja im Grunde vor allem ein

Aufstand des Pöbels, der geraubt und gemordet hat. Eine

Folge der bitteren Armut und Finsternis in der Zarenzeit.

Man müsste ganz langsam noch einmal von vorn anfan-

gen, an der Basis. Für die Ukraine gilt dasselbe. Das ist

heute ein korrupter Oligarchenstaat.