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„Ich bin in einem doppelten Schweigen aufgewachsen“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

hatte normalerweise keine Wahl, man wurde zwangsrepa-

triiert. Wie meine Eltern es geschafft haben, in Deutsch-

land zu bleiben, und auch so einige andere, konnte ich

nicht aufklären. Das waren Ausnahmefälle. Viele wollten

auf gar keinen Fall zurück, haben sich zum Teil den Ame-

rikanern zu Füßen geworfen und haben gebettelt „Lasst

uns hier, lasst uns hier.“

LZ:

Wann ist Ihnen klar geworden, dass die Wahrheit anders

aussah, als Ihnen erzählt worden war? Dass NS-Deutsch-

land den Krieg begonnen hatte usw. - haben Sie nicht eine

große Wut bekommen?

Natascha Wodin:

Das haben mir, wie schon gesagt, erst

die Achtundsechziger erklärt, sie haben mich aus mei-

nem Dornröschenschlaf erweckt. Das hatte fatale Folgen

für mich. Ich habe nicht mit Wut reagiert, sondern mit

Selbstzerstörung. Mich haben krankhafte, irrationale

Ängste überfallen, deren Ursache ich lange Zeit nicht

verstehen konnte. Das gelang erst sehr langsam in einer

Psychotherapie. Wenn ich mir heute die Welt ansehe,

bin ich froh, dass ich in Deutschland leben kann. Aber

ich habe teuer dafür bezahlt. Ich war lange Zeit meines

Lebens psychisch krank und konnte die Wohnung nicht

verlassen, die Außenwelt war zu einer lebensbedrohlichen

Fremde für mich geworden. Zu einer Zeit, als ich eigent-

lich längst hätte frei und selbstbestimmt leben können.

Ein Linker, der die Psychologie für eine bürgerliche Wis-

senschaft hielt, sagte damals zu mir: „Du solltest lieber an

der Veränderung der Welt arbeiten, anstatt deine privaten

Wehwehchen zu kurieren.“ Die Achtundsechziger haben

mich irgendwann tatsächlich wütend gemacht mit ihrer

Arroganz und ihrer ständigen inquisitorischen Fahndung

nach Überresten von Bürgerlichkeit in den eigenen Rei-

hen. Aber ohne sie wäre ich heute nicht da, wo ich bin.

Es hat nur sehr lange gedauert, Jahrzehnte, bis ich zu mir

kommen konnte. Die traumatischen Erfahrungen meiner

Kindheit haben dazu geführt, dass ich mein Leben nicht

leben konnte.

LZ:

Das ist eine harte Aussage.

Natascha Wodin:

Wenn ich mein Leben hätte leben

können, hätte ich heute ein ganz anderes Leben. Ich weiß

nicht, was für eines, aber es wäre anders. Vieles ist eine

Folge dieser Zeit. Deswegen bin ich auch Schriftstelle-

rin geworden. Ich habe begonnen zu schreiben, als ich

begonnen habe verrückt zu werden. Als ich nicht mehr

aus dem Haus gehen konnte. Da hatte ich keine andere

Wahl mehr. Ich habe schon als Kind geschrieben, weil ich

sehr einsam war und niemanden zum Reden hatte. Das

Schreiben war lange Zeit mein einziges Ausdrucksmittel.

Inzwischen leide ich an einer Art Formulierungszwang.

Ich muss alles, was ich sehe und erlebe, sofort in Worte

fassen, es festhalten. Erst durch die Worte wird das Erleb-

te wirklich.

LZ:

Ganz anderes Thema: Was verbinden Sie heute mit

Bayern?

Natascha Wodin:

Ehrlich gesagt, habe ich zu Bayern im-

mer noch nicht die große Liebe. Es ist merkwürdig, ich

komme zum Beispiel nach Forchheim und schon springt

mir ein Frosch im Magen. Ich steige in Ansbach aus dem

Zug und werde in meine Kindheit versetzt. Mit München

verbinde ich wegen meiner privaten Verhältnisse auch

Natascha Wodins Mutter in Mariupol, ca. 1943

Foto: privat