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Einsichten und Perspektiven 3 | 17

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932

Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Zarenreich bei seinem Aufbruch in

das Industriezeitalter deutlich an Fahrt gewonnen. Dabei war die soziale und

ökonomische Entwicklung der politischen bald weit enteilt. Während die liberal

gesinnten Eliten auf den Übergang zu einem parlamentarischen Verfassungs-

staat drängten und sich Bauern sowie Arbeiter nicht angemessen in die russi-

sche Gesellschaft integriert fühlten, verschanzte sich der russische Kaiser Nikolaj

II. unbeirrt hinter einem einfältigen Weltbild. In seinem autokratischen Starrsinn

erklärte er: „Ich betrachte Russland als einen Landbesitz, dessen Eigentümer der

Zar, dessen Verwalter der Adel und dessen Arbeiter der Bauer ist.“

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Diese archa-

ische Metapher für eine ungerechte und überkommene Gesellschaftspyramide

drückte einen akuten Mangel an Modernität aus. Gefangen in ihrer Selbstbe-

zogenheit, hatte sich die russische Autokratie auf einen politischen Blindflug in

die ferne Vergangenheit eines idealisierten 17. Jahrhunderts begeben, statt die

Herausforderungen der Zeit anzugehen. Mahnende Stimmen, mehr Partizipation

und Emanzipation zu wagen, fanden am Zarenhof nicht hinreichend Gehör;

die russische Regierung griff vielmehr verstärkt zu Repressionen. Offensichtlich

ging es Nikolaj II. und seiner Petersburger Entourage mehr um den Erhalt ihrer

Selbstherrschaft und weniger darum, das Land in den Strom der Zeit zu bringen

und es zukunftsfähig zu machen.

Die seit 1902 zu beobachtende Zunahme bäuerlicher

Unruhen und städtischer Streiks veranschaulichte die

gesellschaftlichen Gärungsprozesse. Damals erklärte der

russische Innenminister Vjačeslav von Pleve (1846-1904):

„Um die Revolution einzudämmen, brauchen wir einen

kleinen siegreichen Krieg.“

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2

Die imperiale Expansion

sollte als Ablenkungs- und Kompensationsmittel zur Still-

legung innergesellschaftlicher Konflikte dienen. Diese

Dringlichkeiten permanenter Krisensteuerung hielten die

russische Regierung zu waghalsigen Abenteuern an, die

unweigerlich Konfrontationen mit anderen Großmächten

heraufbeschworen und damit die internationale Politik

mit Spannungen aufluden.

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1 Zit. n. Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen

Revolution 1891 bis 1924, München 2001, S. 53.

2 Dieses Zitat überlieferte Sergej Ju. Vitte: Vospominanija, Bd. 2, Moskva 1960, S. 291.

3 Dazu immer noch wegweisend Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus.

Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-

1914, Göttingen 1977.

Allerdings scheiterte von Pleves sozialimperialistischer

Rettungsversuch. Statt zum Verhinderer sollte der Krieg

schon bald zum Geburtshelfer der Revolution in Russ-

land werden. Er sorgte dafür, dass sich die seit Längerem

schwelenden gesellschaftlichen Brandherde explosionsar-

tig entzündeten. Die Innenseite der Außenpolitik kam

1905 auf eine Art zum politischen Ausdruck, die der

Zarenhof nicht erwartet hatte und die das Fundament

des Russischen Imperiums erschütterte.

Der Russisch-Japanische Krieg 1904/5

Zum Selbstverständnis Russlands gehörte es seit dem

18. Jahrhundert, als Großmacht auf der internationalen

Bühne eine führende Rolle zu spielen. Mit dem Anbruch

des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-

derts wurde unter dem Einfluss eines übersteigerten Nati-

onalismus die Vorstellung zur Staatsräson, das Zarenreich

dürfe bei der anstehenden Verteilung der Welt keinesfalls

Fall leer ausgehen.