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Einsichten und Perspektiven 3 | 17

zunächst zwischen Entge-

genkommen und Ablehnung

laviert hatte, brüskierte er

dann im Dezember 1904

die auf Verständigung drän-

genden Regierungskreise, als

er noch einmal die Unver-

letzbarkeit der Autokratie

bekräftigte und der libera-

len Opposition vorwarf, mit

ihren Initiativen ihre Kompe-

tenzen zu überschreiten und

Meinungen zu vertreten, die

dem russischen Volk fremd

und für das Land schädlich

seien.

13

Bevor es zu weiteren Ver-

handlungen kommen konnte,

eskalierte die Entwicklung

dann zu Beginn des Jahres

1905. Die Aktivitäten ver-

schoben sich aus den Ver-

handlungsräumen der geho-

benen Gesellschaft auf die

Straße. Das soziale Aufbegehren gewann eine neue Qua-

lität, als sich am Sonntagmorgen des 9. Januars an ver-

schiedenen Plätzen in Petersburg eine Menge von bis zu

100.000 Menschen versammelte, unter ihnen viele Frauen

und Kinder, die ihren Unmut über den Mangel an Brot

und die willkürliche Entlassung von Arbeitern in den

Putilov-Werken öffentlich bekunden wollten. Den prozes-

sionsartigen Arbeiteraufmarsch hatte der Priester Georgij

Gapon (1870-1906) organisiert, der mit seinen Predigten

und seinem politischen Engagement sowohl in der Arbei-

terschaft Ansehen erworben als auch Regierungskreise auf

sich aufmerksam gemacht hatte. Als Priester wollte Gapon

seinen Beitrag dazu leisten, das Bündnis zwischen Zar und

Volk zu festigen und dem Zarenmythos in der Arbeiter-

schaft zu neuem Ansehen zu verhelfen. Deshalb hielten

die demonstrierenden Arbeiter am 9. Januar auch Zaren-

porträts, Ikonen und Spruchbänder in den Händen, auf

denen sie Nikolaj II. inständig um Hilfe baten. Das Ziel

des Arbeiterumzugs sollte der Winterpalast sein, um dort

13 Heinz-Dietrich Löwe: Der Russisch-Japanische Krieg und die russische In-

nenpolitik. Vom „kleinen erfolgreichen Krieg” in die erste Revolution von

1905, in: Maik Hendrik Sprotte/Wolfgang Seifert/Heinz-Dietrich Löwe

(Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit?,

Wiesbaden 2008, S. 147-171, hier S. 158-161; Peter Enticott: The Russian

Liberals and the Revolution of 1905, London 2016, S. 14-22.

dem Zaren eine Petition zu übergeben. Diese war mode-

rat und konziliant im Ton, hielt aber auch konkrete politi-

sche Forderungen fest, so die Gewährung von Grund- und

Wahlrechten, die Einberufung eines Parlaments und die

Einführung des achtstündigen Arbeitstags.

Mit dem von Gapon angeführten großen Arbeiterauf-

marsch waren die schlecht vorbereiteten Petersburger Ord-

nungskräfte hoffnungslos überfordert. Vermutlich infolge

eines falsch verstandenen Hornsignals eröffneten Soldaten

schließlich an mehreren Stellen das Feuer. 130 Demonstrie-

rende verloren ihr Leben, weitere 300 wurden verletzt. Die

Menge reagierte mit Entsetzen und Zorn. Voller Verzweif-

lung und Entrüstung soll Gapon verkündet haben, es gebe

fortan weder Gott noch Zar. In die russische Geschichte

ging dieser 9. Januar 1905 wegen seines tragischen Verlaufs

als „Blutsonntag“ ein.

14

Das Massaker in der Hauptstadt wirkte als Fanal der brutalen

Unterdrückung. In Windeseile verbreiteten sich die Nach-

richten, dass der Zar auf sein eigenes, ihm treu ergebenes

Volk schießen ließ. Der Mythos vom gütigen Herrscher erlitt

14 Figes (wie Anm. 1), S. 187-193; Walter Sablinsky: The Road to Bloody

Sunday. Father Gapon and the St. Petersburg Massacre of 1905, Princeton

1976; Abraham Ascher: The Revolution of 1905. Bd. 1: Russia in Disarray,

Stanford 1988, S. 74-101.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932

Der „Blutsonntag“ in St. Petersburg (9. Januar 1905 nach dem julianischen Kalender): Demonstranten vor der

Kasaner Kathedrale auf dem Newski-Prospekt

Foto: ullstein bild/Fotograf: Valerian Gribayedoff/Julius Grape