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Israel: Start-ups, Siedler und „smarte Pazifisten“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

The Situation

Dass es diese Stimmen in Israel gibt, ist nichts Neues

oder gar Bemerkenswertes. Bemerkenswert ist vielmehr,

dass diese Aussagen von einem Politiker stammen, dessen

Partei noch als gemäßigt unter den Regierenden gilt. Das

Treffen mit dem Parlamentarier illustriert einen Wandel,

der sich in den vergangenen Jahren nicht nur in der israe-

lischen Politik, sondern in der gesamten Gesellschaft voll-

zog: Wer in Gesprächen über „

the Situation

“ – so wird der

Konflikt zwischen Arabern und Israelis und alles, was er

mit sich bringt, oftmals genannt – nach wie vor die Zwei-

staatenlösung erwähnt, wird längst nicht mehr nur von

Befürwortern des Siedlungsbaus belächelt.

Die Fronten sind verhärtet. Besonders ein Ereignis

spaltete jüngst die israelische Gesellschaft: Der israelische

Soldat Elor Azaria wurde Anfang Januar 2017 vom Tel

Aviver Militärgericht wegen Totschlags verurteilt. Darauf

stehen bis zu zwanzig Jahre Haft. Einige Hundert Israelis

demonstrierten im Anschluss für die Freilassung Azarias.

Das Video der Tat aus demMärz 2016, das ein Palästinen-

ser in Hebron filmte und schließlich von der israelischen

Menschenrechtsorganisation

B’Tselem

(„Ebenbild“) veröf-

fentlicht wurde, schlug nicht nur im Nahen Osten hohe

Wellen – es ging um die ganze Welt: Zwei junge Palästi-

nenser waren in Hebron, einer Stadt im Westjordanland,

in der viele jüdische Siedler leben,

4

mit Messern auf einen

israelischen Soldaten losgegangen und hatten ihn verwun-

det. Sie wurden von dessen Kameraden angeschossen und

kampfunfähig gemacht – der verletzte Soldat überlebte

den Angriff und wurde umgehend medizinisch versorgt.

Das Video, das Palästinensern als Beweis der Brutalität der

Besatzungsmacht gilt, beginnt elf Minuten nach der Atta-

cke, als einer der beiden Angreifer verletzt und reglos am

Boden liegt. Der junge Soldat Azaria, als Militärsanitäter

vor Ort, geht auf den Palästinenser zu und schießt ihm aus

nächster Nähe in den Kopf.

Während auch viele jüdische Israelis dies als menschen-

rechtswidrige Hinrichtung verurteilten und Azaria als

Mörder bezeichnen, wurde er von mehreren nationalen

Medien zum „

Man of the Year

“ gewählt

5

– für sie ist er

ein Volksheld. Eine Umfrage des Israelischen Demokra-

tie-Instituts unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls

4 Vgl. zur Situation in Hebron auch das Länderporträt Palästinas der Auto-

rin im vorletzten Heft: Milz (wie Anm. 3), S. 17.

5 So etwa von der rechtskonservativen Zeitung

Makor Rishon

, vgl.

Rightwing Paper Crowns Shooting Medic Azaria “Man of the Year”,

30.09.2016,

http://www.jewishpress.com/news/breaking-news/

rightwing-paper-crowns-shooting-medic-azaria-man-of-the-

year/2016/09/30/ [Stand: 20.09.2017].

im März 2016 stellte eine Mehrheit der jüdischen Israelis

auf der Seite Azarias fest: 53 Prozent waren der Meinung,

dass ein bereits unschädlich gemachter Terrorist erschos-

sen werden sollte, auch wenn seine Tat bereits geschehen

ist; in der Gruppe der jungen Erwachsenen unterstützten

dies sogar 70 Prozent.

6

Die Jahrzehnte währende Ausein-

andersetzung mit dem palästinensischen Terrorismus – die

Raketen der Hamas, Bomben in Bussen des öffentlichen

Nahverkehrs und Restaurants, Messerattacken auf israeli-

sche Bürgerinnen und Bürger – hat die Gesellschaft ver-

härtet und begünstigt Forderungen nach einem radikalen

Umgang mit den Attentätern.

Der Prozess gegen den Soldaten wurde zum Politikum

par excellence: Verteidigungsminister Lieberman war vor

Gericht persönlich anwesend, Ministerpräsident Netany-

ahu sprach sich nach dem Schuldspruch vom Januar für

eine Begnadigung Azarias aus.

Im Februar wurde schließ-

lich das Strafmaß festgelegt: eineinhalb Jahre Gefängnis.

Die Debatte über ethisches Verhalten im Militär ist damit

freilich nicht beendet. Offene Kritik an den Streitkräften

jedoch ist in Israel vielen ein Tabu. Große Teile der Gesell-

schaft sprechen sich sogar dafür aus, dass Soldatinnen und

Soldaten Immunität genießen sollten. Die Armee spielt in

Israel eine wichtigere Rolle als in vielen anderen demokra-

tischen Systemen: Mit einem breiten Kulturangebot wirkt

sie auf das Bildungssystem ein, Bürgerinnen und Bürger

aus unterschiedlichsten sozialen Milieus treffen hier auf-

einander, sie fungiert als der vielleicht bedeutendste Treff-

punkt der Hi-Tech-Szene. Etliche Start-ups werden in den

Kasernen gegründet, so etwa das erfolgreiche Softwareun-

ternehmen

Check Point

oder

Wix

, eine beliebte Plattform,

die es ihren Nutzern erlaubt, kostenlos und unkompliziert

eine eigene Homepage zu kreieren.

Ein weiterer Nebeneffekt des Militärs ist emanzipativ,

von vielen wird die Armee sogar als Plattform des Feminis-

mus wahrgenommen: Die meisten Frauen, fast alle säku-

laren, leisten Wehrdienst. Mittlerweile dürfen sie neunzig

Prozent der existierenden Posten bekleiden, die meisten

erledigen aber nach wie vor Bürojobs.

7

Im Gegensatz zu

den Männern, für die eine zweieinhalbjährige Wehrpflicht

6 Vgl. den Bericht von Yohanan Plesner: After the Elor Azaria Trial: Will

Our Politicians Actually Fight for Israel’s Moral Values?, 09.01.2017,

https://en.idi.org.il/articles/12271

[Stand: 20.09.2017].

7 Der erfolgreichste israelische Spielfilm des Jahres 2014, „Zero Motivati-

on“ von Talya Lavie, karikierte dies: Die Protagonistinnen langweilen sich

beim Kaffeekochen, Computerspielen und Aktenschreddern. Fast 600.000

Israelis sollen ihn gesehen haben. Vgl. Ayala Goldmann: Null Bock auf

Zahal, 24.11.2016,

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/

id/27049 [Stand: 20.09.2017].