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Israel: Start-ups, Siedler und „smarte Pazifisten“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

besteht, dienen die israelischen Frauen meist zwei Jahre.

Das gilt auch zunehmend für religiöse Israelinnen: 2.000

orthodoxe Frauen pro Jahr treten mittlerweile den Dienst

an

8

– in dieser Größenordnung ein in Israel lange unbe-

kanntes Phänomen. Die Angabe zur religiösen Einstel-

lung bei der Musterung ist kaum überprüfbar; doch der

Verweis auf den Glauben ermöglicht eine Befreiung vom

Militärdienst, von dem gläubige

Jüdinnen auch oftmals

Gebrauch machen. Die jüngste Entwicklung, die mehr

orthodoxe Jüdinnen in die Armee führt, schreckt deshalb

nicht zuletzt etliche Rabbiner auf, welche wehrdienstleis-

tende Frauen selten gutheißen.

Die Befreiung aus religiösen Gründen gilt aber auch für

Männer. Manche Israelis lügen bei der Gretchenfrage aus

ästhetischen Gründen: Um während des Militärdienstes

einen Bart tragen zu dürfen, müssen die Männer unter-

schreiben, dass sie religiös sind. Die Regelung führte in

jüngster Zeit sogar zu viralen Protesten von Soldaten über

Facebook und Twitter: Unter dem Schlagwort

„free will“

kämpfen sie sozusagen für ihr Recht auf einen Hipster-

Bart.

„Für uns macht hier niemand Politik“

Diese und andere Anekdoten werfen ein Schlaglicht

auf ein Problem: Die Zusammensetzung des israelischen

Militärs, das die Gesellschaft Israels so umfassend prägt,

ist kein repräsentatives Abbild der Bevölkerungsgruppen,

die im Staat leben. Israelische Araber, die immerhin ein

Fünftel der Bevölkerung ausmachen, sowie ultraortho-

doxe Juden sind de facto von der Wehrpflicht befreit. Sie

dürfen den Dienst antreten, müssen es aber nicht – was

zur Folge hat, dass die allerwenigsten von ihnen zur Armee

gehen. Dadurch gewinnen sie mehrere Jahre, die sie in ihre

Ausbildung investieren können, monieren säkulare Israe-

lis, die sich übervorteilt fühlen und für eine umfassendere

Wehrpflicht aussprechen. Damit einher geht andererseits

aber auch eine soziale Benachteiligung der Gruppen, die

keinen Militärdienst leisten, denn die dort geknüpften

Kontakte entscheiden nicht selten über Karrierewege. Die

wirtschaftliche und kulturelle Elite des Landes rekrutiert

sich in erster Linie aus der Gruppe der säkularen Israelis.

Paradoxerweise wird für die Säkularen, die auch den

breiten Mittelstand bilden, kaum Politik gemacht: „Wir

haben es so satt“, meinte dazu bereits vor Jahren ein Tou-

ristenführer in Jerusalem zur Autorin dieses Textes. Der

8 Vgl. Susanne Knaul: Frauen, heilig und keusch, 08.03.2017, http://www.

taz.de/

!5387618/ [Stand: 20.09.2017].

Familienvater, ein Akademiker Ende 30, schimpft: „Die

Parteien richten sich einzig und allein an den beiden Polen

Sicherheit und Religion aus. Für uns, die säkulare Mit-

telschicht, macht hier niemand Politik. Dabei sind wir

es, die den Staat am Laufen halten: Wir sorgen für seine

Sicherheit, indem wir Militärdienst leisten; mit unseren

Steuern finanzieren wir die Sozialsysteme, mit unserer

Arbeitskraft stützen wir die Wirtschaft. Und wofür? Die

Lebenshaltungskosten explodieren und niemand setzt sich

mit unseren Problemen auseinander.“

Wenige Wochen nach dem Gespräch – es ist Sommer

2011 und im Nahen Osten regiert noch hoffnungsfroh

der Arabische Frühling – ergriffen soziale Proteste den

jüdischen Staat. Während die Menschen in Kairo, Tunis,

Damaskus sich gegen ihre repressiven Regime wehrten,

gingen Israelis auf die Straße, weil sie sich nicht mehr

imstande sahen, ihre Mieten zu bezahlen. Sie forderten

politische Maßnahmen. Die Situation hat sich seither

kaum verbessert: Wer heute in Tel Aviv eine Wohnung

sucht, sollte eine ordentliche Portion Geduld und das

nötige Kleingeld mitbringen.

Die Unzufriedenheit der Mittelschicht – der Tou-

ristenführer hat es formuliert –, hat nicht zuletzt damit

zu tun, dass auf religiöse Befindlichkeiten oftmals mehr

Rücksicht genommen wird als auf die Bürgerinnen und

Bürger, die das Funktionieren der israelischen Demokratie

gewährleisten. Um dies zu verstehen, muss die komplexe

Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft in den

Blick genommen werden – und wie sie sich entwickelte.

Das Heilige Land

Israel ist in religiöser Hinsicht vielfältig:

9

Etwa acht Mil-

lionen Menschen leben innerhalb der Staatsgrenzen, drei

Viertel von ihnen sind Juden, mehr oder weniger religiös,

ein gutes Fünftel Araber, die mehrheitlich der sunnitisch-

muslimischen Religion angehören.

10

Israelische Chris-

ten, die meisten arabischer Herkunft, machen etwa zwei

Prozent der Bevölkerung aus; die Drusen – eine religiöse

Gemeinschaft, die sich im 11. Jahrhundert von der musli-

mischen Schia abgespalten hat – ergeben eine Minderheit

von derzeit 1,6 Prozent und leben in wenigen Siedlungs-

gebieten konzentriert. Etwa neunzig Prozent der Drusen,

9 Zu den folgenden Abschnitten vgl. Angelika Timm: Gesellschaftsstruk-

turen und Entwicklungstrends, in: Dossier Israel, 10.06.2008, http://

www.bpb.de/internationales/asien/israel/45093/gesellschaft

[Stand:

20.09.2017].

10 Zu den aktuellsten Zahlen vgl. hier und im Folgenden das CIA World

Factbook: Israel,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-

factbook/geos/is.html [Stand: 20.09.2017].